Carlos Kleiber portraitiert...

...von Jens Malte Fischer, Alexander Werner, einer ARTHAUS-DVD und

von Peter Bilsing
„Es muß so gut werden,
daß ich überflüssig werde.“

Dreimal Biografisches von und über
Carlos Kleiber


Carlos Kleiber – Rehearsel and Performance – Arthaus DVD

Eine für Musikfreunde generell, für Carlos-Kleiber-Fans im besonderen unverzichtbare Video-Scheibe legt nach langen Urheberrechtsquerelen jetzt die Firma ARTHAUS vor. „Bei der Arbeit beobachtet“ hieß eine ehemalige SDR-Fernsehreihe, in der berühmte Künstler aus der Klassik, u.a.: Sergiu Celibidache, Ferenc Fricsay, Hermann Scherchen, Georg Solti, Vaclav Neumann oder Giuseppe Sinopoli während diverser Proben und Aufführungen filmisch begleitet wurden – Zeitdokumente ohnegleichen. Diese Aufnahmen stammen aus dem Jahre 1970 und wurden anläßlich eines Konzertes des Südfunk-Sinfonieorchesters in der Stuttgarter Villa Berg gemacht. Im Zentrum stehen die Ouvertüren zu Webers „Freischütz“ und Strauß´ „Fledermaus“.

Ein schwieriger Mann

Carlos Kleiber war ein schwieriger Mann, als Exzentriker, Wahnsinniger oder Paradiesvogel verschrien. Sicherlich hatte er von jedem etwas – Genie und Wahnsinn liegen ja oft dicht beieinander. Mit diesen raren Aufnahmen des sehr öffentlichkeitsscheuen, aber während der Proben doch sehr beredten Dirigenten kann sich nun jeder sein eigenes Bild machen. Die Filme sagen auch viel über den Menschen Kleiber aus. Immerhin zeigen seine Kommentare, bei allem Charme und Zynismus, Humor und Zorn doch stets sein Bemühen, seine Musik in eben dem unübertroffenen Perfektionismus wiedergeben zu wollen, dessen Maßstäbe Kleiber so hoch anlegt, wie sie wohl kein Musiker dieser Welt erfüllen kann, wahrscheinlich der Komponist selber nicht. Und was schließlich herauskommt, sind zwar wirklich begnadete, in diesem Qualitätsanspruch bisher nie gehörte Aufnahmen - wiewohl den aufmerksamen Zuschauer immer noch irgendwie der Eindruck quält, daß der Maestro nur teilzufrieden ist und das Ideal dieses seines tiefkünstlerischen Gewissens doch nicht erreicht hat. Man beachte die Augen, schaue auf seine Mundwinkel! Je älter er wurde, desto mehr prägte diese Unzufriedenheit, diese Leiden unter dem Mangel an Perfektionismus vieler Orchester-Musiker auch sein Gesicht. Jens Malte Fischer spricht posthum nicht zu Unrecht vom „skrupulösen Exzentriker“.
Gerade in diesen Aufnahmen kann man exemplarisch (Bilder sagen mehr als Worte, obgleich deren auch viele fallen) Kleibers innere Verzweiflungskämpfe wahrnehmen, wo immer es nicht nach seinen Vorstellungen läuft. Da kämpft, ringt ein Dirigent um Seelen. Den filmischen Beobachtungen entspringt beim ersten Anschauen sofort ein Gedanke: Hier versucht ein Genius städtischen Beamten echte, wahre Musik zu entlocken; versucht Herzen aufzubrechen und an Ideale zu appellieren. Ein Prozeß ähnlich dem, einem steinernen Komtur wieder glutvolles Leben einzuhauchen oder Steine im Orpheus´schen Sinne zum Weinen zu bringen. Sinnlose Plage – Müh ohne Zweck? Das sollten sensible Ohren und Augen selber entscheiden.

"Ihr Stakkato ist nicht fesch genug!"


Zwar ist die Bildqualität nahe am Hobbyformat eines Super-8-Urlaubsfilms, also grottenschlecht, aber die Tonqualität noch historisch zufriedenstellend. Was soll´s. Man ist ja froh, überhaupt Material von diesem sensiblen und öffentlichkeitsscheuen Künstler, einem der vielleicht größten Dirigenten aller Zeiten zu haben. Doch lassen wir ihn selber sprechen und ich kommentiere, was der Leser nicht sehen kann:
„Brausen Sie ein bißchen. Es ist wahrscheinlich zu kalt hier, oder?“ Zur Empfindsamkeit der Blechbläser, die ihm nur schwer folgen: „Seien Sie doch mal etwas unehrlicher, etwas sinnlicher!“
Nachdem ihn nicht wenige Orchestermitglieder wie die sprichwörtlichen Pfingstochsen ratlos anschauen: „Ihr Stakkato ist nicht fesch genug. Sie spielen, als wenn sie Übergewicht haben; spielen Sie, als werben Sie um eine imaginäre schöne Frau – Sie kitzeln diese Frau bisher ein wenig zu fest!“
Optisch scheinen solch Äußerungen und die steten Wiederholungen manchen der Altherrenriege – Damen sucht man vergebens - schier in den Wahnsinn zu treiben, man steht kurz vor einer Explosion der Gemüter…welch durchlittene Seelenpein…wenn da nur das Fernsehen nicht wäre!
„Tschuldigens, ich möchte das genießen.“ Kurze Pause: „Dazu ist man ja da!“ Flötensüß – Sekunden später: „Sie auch !!“ Das sitzt.
Manchmal pflegte er eine sehr klare Sprache, so wie hier zu den Flöten: „Sie helfen uns nicht sehr!“

Und der Maestro lacht...


„Sie haben – soll nicht böse gemeint sein – ein bißchen zuviel Dienstliches an dieser Stelle. Spielens so, als wenn jemand durchbricht“ - Er meinte wohl >durchbrennt - „mit der Kasse zum Beispiel.“
Beim Anblick der versteinerten Gesichter „Bitte mehr Freude im Vibrato….so wie beim Heurigen.“ Geringfügig leichtes Aufhellen. „Ich will, daß Sie diese Krokodilstränen spielen…ist ja auch echt…bei Frauen sind diese Krokodilstränen immer echt! Der Tenor wartet doch schon.“ Jetzt hat er sie; Gelächter in burschikoser Männer-Seligkeit! „Ich sehe Sie haben´s…vor allem, wenn man so mit Ihnen spricht!“ Da lacht der Maestro und ist kurzzeitig zufrieden.
Doch bevor Kneipenfröhlichkeit eintritt: „Stakkato ist sehr schwer. Spielen Sie ein richtiges Stakkato – ein nadeliges…eher stakkatissimo!“
Später zum Finale: „Dieses Fortissimo sollte ein ehrliches sein!“ Grübelnde Gesichter. „Vielleicht sagt mancher von Ihnen: Bei Strauß so ein Fortissimo? Dezentes Nicken. „Aber warum nicht?“
Carlos Kleiber wahrt jedoch stets die ihm eigene Wiener Höflichkeit, ohne in Schmäh auszuarten. Gelegentlich zeigte der gebildete und hochintelligente Maestro auch charmantem Witz mit Verständnis und Selbstironie; dabei erscheint es nicht nur als Formalie, wenn er sich permanent entschuldigt.
„Entschuldigens, daß ich permanent unterbreche…gerade an Stellen, wo man wirklich weiterspielen möchte. Aber auf dem Spiegel draußen ist ein schönes Portrait:. Ein Geiger will einen Dirigenten umbringen!“ Der Maestro grinst fast schadenfroh. „Aber seien Sie vorsichtig, ich bin immer bewaffnet!“ Erlösendes Lachen.
„Wir spielen jetzt durch bis zum Schluß – ich unterbreche mal nicht.“ Leise und fast in sich murmelnd: „Zumindest nehm ich mir´s vor.“ Dann folgt ein atemberaubender Schluß der mittlerweile schon legendären Fledermaus-Ouvertüre im irrwitzigen Tempo. Überirdisch! Das ist Kleiber – so war er.
Schlußzitat und Primat seiner Orchesterschwerarbeit: „Ich will eigentlich gar nichts, ich will, daß Sie was wollen.“
Kleibers Dirigierstil ist einmalig. Manchmal hat man als Zuschauer den Eindruck, als wäre der Stab mit ihm verwachsen. Der Dirigent bewegt ihn, wie die Wünschelrute eines Wassersuchenden, die emphatisch und sehr sensibel auf die Wellen und Wogen der Musik reagiert.

Ein Zeitdokument in Bild und Ton

Was für ein echtes Ton-, Bild- und Zeitdokument! Kleiber ist nicht mit den beiden anderen Perfektionisten, die mir in diesem Zusammenhang einfallen, George Szell und Arturo Toscanini, vergleichbar. Toscanini war ein Exzentriker dessen „werktreue“ Aufnahmen durch Notenpräzision auch heute noch bestechen, seinem Ärger machte er spontan und ungehobelt Luft, was gnädigenfalls im Zerbrechen des Dirigierstabes endete, ungnädigenfalls auch mal in Tätlichkeiten. George Szell war ein Probenwahnsinniger und Orchestererzieher, der es durch seine Akribie (Tägliche Proben!) und Toscanini-ähnliche Notentreue schaffte, das ehemals mittelprächtige Orchester von Cleveland zu einem der weltbesten Klangkörper zu formen. Beider Welten waren von Anfang an festgesteckt.
Während Kleiber ein ewig Suchender gewesen ist, der unabhängig von Orchester und Stück, Oper oder Konzert, stets seine Vorstellung der perfekte Seele der Musik mit quasi göttlichem Odem in seine Musiker einhauche wollte. Wenn es gelang (Tristan, Wozzeck, Fledermaus - pars pro toto) wurden die Aufnahmen zu Legenden ewiger Einmaligkeit. Aber mit welchen Opfern, Aufwand und unter heutiger Sicht: welch völlig irrationalen Forderungen und Produktionsbedingungen. Heute gehe ich in Konzerte, da gab es gerade einmal eine Durchlaufprobe oder schlimmer noch in der Oper (Wien ist da ein Paradebeispiel): Der Maestro fliegt morgens ein und mit dem Spätflieger am Abend wieder zurück.
Wer sich mehr mit diesem Phänomen, diesem außergewöhnlichen Menschen und musikalischen Magier beschäftigen möchte, dem seien unbedingt zwei Bücher empfohlen:


Das kleine Buch über den großen Dirigenten

Carlos Kleiber
– Der skrupulöse Exzentriker (Jens Malte Fischer, Wallstein 2007)

Recht kurz, aber nicht weniger liebevoll kann sich der Kleiber-Freund mit dem kleinen Büchlein von Jens Malte Fischer weiterbilden, das über die Bayerische Akademie der Schönen Künste 2007 bei Wallstein erschienen ist - das erste Buch, das sich nach des Dirigenten Tod mit dem Phänomen „Carlos Kleiber“ beschäftigte. Der Autor, Münchner Theaterwissenschaftler und Germanist, hat einen zum Angedenken Kleibers in der „Bayerischen Akademie der Schönen Künste“ gehaltenen Vortrag als Büchlein (ein echtes Kleinod) mit vielen späten, bisher unveröffentlichten Portrait-Bildern Anne Kirchbachs dekoriert, herausgebracht. Gerade diese Bilder sind von großer Faszination und lassen schon für sich alleine den Titel des „skrupulösen Exzentrikers“ plausibel erscheinen. Das Büchlein von schmalen 95 Seiten Umfang (davon gut ein Drittel Diskografie), ist ein Mischung aus Hommage und Essay. Schon quantitativ kann es keine umfassende biografische Aufarbeitung sein. Immerhin reißt es Themen, wie „Die Macht des Dirigenten“ oder „Der Perfektionist“ bzw. „Der Schwierige“ und „Risiko-Dirigent“ zwar oberflächlich, aber doch kritisch an. Es zeigt sich die Schwierigkeit, das künstlerische Profil eines der größten Dirigenten unserer Zeit in Kurzform zu erfassen. Bei solcher Zeilenbeschränkung muß der Versuch anekdotenhaft bleiben. Doch es läßt sich gut lesen und ist immerhin ein qualitativ anspruchsvoller Einstieg, um sich danach mit Alexander Werners umfangreicherer Biografie auseinanderzusetzen. Ein Fazit dieses Essays: „Es gibt Schwierige, denen man fast alles verzeiht.“ Ein guter, ein versöhnlicher Satz. Doch bringen mehr Seiten auch mehr Klarheit in das Enigma „Carlos Kleiber“? Die Alternative liegt vor:


Das große Buch über den großen Dirigenten

Carlos Kleiber
– Eine Biografie (Alexander Werner, Schott 2007)

Das knapp 600-seitige Kompendium © 2008 ist sicherlich das umfangreichste und angesehenste Werk, welches sich je mit Carlos Kleiber beschäftigt hat. Für eine Biografie, die chronologisch und anhand von Zeugnissen vieler Freunde, Verehrer und Lebengefährten quasi akribisch das Leben dieses schwierigen Genius verfolgt und nachvollzieht, ist das Buch nicht nur höchst informativ, sondern auch angenehm lesbar in sehr flüssigem Stil geschrieben. Das freut Hirn und Herz. Eine fast 30-seitige Diskografie der veröffentlichten Mitschnitte zeigt und widerlegt nicht unbedingt das (Vor-)Urteil, Kleiber habe ein musikalisch nur sehr einseitiges Repertoire, ähnlich Celibidache, sein eigen genannt. Es tauchen schon immer wieder dieselben Komponisten auf: Strauß, Wagner, Brahms, Weber, Beethoven, Puccini und Verdi. Nun wissen wir es exakt: 5 Bohèmes, 6 Rosenkavaliere, 8 Traviatas und 6 Tristans hat der Maestro u.a. auf Scheiben produziert – illegale Mitschnitte der Fans aus Privatarchiven blieben unberücksichtigt.

Ein Puzzle

Werner hat sich einer Riesenarbeit unterzogen, denn direkte Informationen oder Aussagen der Erben lagen aus den bekannten Gründen (informative Totalverweigerung des Familienarchivs durch die Kinder + lebenslange Interviewablehnung des Maestros) nicht vor, daher kann man keine grundlegende Persönlichkeitsanalyse erwarten, aber die unzähligen Mosaikfetzen der Zeitzeugen geben doch letztendlich ein prägnantes und nachvollziehbares Bild aus den unzähligen Puzzleteilen.
Vom Übervater Erich Kleiber geprägt und ein ewig Zweifelnder an der Musik, zerbricht er manchmal fast an seinem eigenen Qualitäts-Anspruch. Ein Irrationalist, ein Getriebener aber dennoch gelegentlich sehr lebenslustiger Bonvivant, wie wir ausgiebig erfahren. Hier ähnelt er durchaus seinem Vorbild, Herbert von Karajan. Aber Kleiber war nicht nur einer der ganz großen Pultstars, sondern wahrscheinlich auch einer der schwierigsten, um den sich unzählige Legenden rankten. Mit vielen wird aufgeräumt, und Alexander Werner bringt Licht in manches Dunkel und Gemunkel. Und auch wenn er Musiker, Intendanten, Kollegen und Musikmanager schier in den Wahnsinn trieb, spricht man letztendlich überwiegend positiv über ihn. Zuviel des Guten – mag man kritisieren.

Mir persönlich erscheint manches zu nett; die vielen posthumen Ehr- und Achtungsbezeugungen erinnern manchmal doch allzu sehr an die Lobhudeleien filmischer „Making Of“s. Doch vorbildlich und übersichtlich gelistet sind alle Zitatnachweise seriös nachprüfbar. Werner verzichtet auf persönliche Spekulationen, Wertungen oder Mutmaßungen, er läßt andere sprechen. Das ehrt ihn und verhindert eine Gratwanderung zum Tratsch, was ihm einige Kritiker vorgeworfen haben. Das Buch ist kein Stück gigantisch aufgeblasene Fanpost, wie es leider die meisten Künstlerbiografien heutzutage sind. Bei allem Zitatenreichtum steht doch immer die Seriosität im Vordergrund. Ein schwerer, solide gebundener Band alter Buchkultur, gewichtsmäßig schon fast ein Wälzer, der für den ehrlichen Preis von knapp 30,- Euro auch einen respektablen bibliografischen Gegenwert gibt.

Anregung zur Vertiefung


Darüber hinaus wird es viele Leser motivieren, sich einmal verstärkt und unter dem Aspekt des nun „Eingeweihten“ ausgiebiger mit des Maestros musikalischem Erbe zu beschäftigen. Schrieb ich über Jens Malte Fischers kleinen „Almanach“: Es zeigt die Schwierigkeit, das künstlerische Profil eines der größten Dirigenten unserer Zeit in Kurzform zu erfassen - muß ich jetzt, auch nach diesen 600 Seiten ergänzen, daß die Fülle der Informationen und Zeitzeugen nicht allzu viel mehr über den Charakter dieses seltsamen Mannes enthüllt hat. Es ist zu hoffen, daß irgendwann die Familienarchive geöffnet werden, damit die historisierenden Biografien ein klares psychologisches Fundament bekommen.
Zum Trost: Auch beim großen Herbert von K. ist dies trotz mittlerweile sieben umfangreicher bibliografischer durchaus ernstzunehmender Würdigungen auch noch nicht überzeugend gelungen. Kommt Zeit kommt Rat! Es gibt noch Hoffnung "Potius sero quam nunquam." Besser spät als nie, so hoffen wir mit Livius und auf ein Einsehen der Familien Kleiber.


Die DVD:
Carlos Kleiber - Rehearsal and performance (Probe und Aufführung)
Arthaus Katalognummer: 101 062
Südfunk-Sinfonieorchester
Ouvertüren: Fledermaus (Strauß) & Der Freischütz (Weber)
Laufzeit: 102 Minuten
Sprache: Deutsch
Untertitel: GB, F, SP, IT
Dolby Digital Mono / Bild 4:3
ca. 27,- Euro
 
Die kleine Biografie
Carlos Kleiber – Der skrupulöse Exzentriker
Jens Malte Fischer / Bilder: Anne Kirchbach
Kleine Bibliothek der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Bd.1
Wallstein Verlag Göttingen 2007 / www.wallstein-verlag.de
15,- Euro
 
Die große Biografie
Carlos Kleiber – Eine Biografie
Alexander Werner
Schott Musik GmbH Mainz, 2008
ISBN 978-3-7957-0598-5
30,- Euro

Informationen im Internet unter: www.carlos-kleiber.de

Redaktion: Frank Becker