Die Frau Holle der Brüder Grimm

Eine Begegnung im indonesischen Jakarta

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker

Die Frau Holle der Brüder Grimm
 
Eine Begegnung im indonesischen Jakarta
 
Von Heinz Rölleke
 
Ein indonesischer Fachkollege wollte kürzlich die nicht mehr existierende Grimm-Arbeitsstelle der Bergischen Universität in Wuppertal besuchen. Er nahm mit mir vorlieb, und wir erinnerten uns sogleich an eine Begegnung in Jakarta vor mehr als dreißig Jahren anläßlich eines internationalen Märchenkongresses, wo es zu ungewöhnlich hitzigen Diskussionen, aber zu einem schließlich alle überzeugenden Ergebnis gekommen war.
 
Das Symposion wurde im Oktober 1986 von der Universitas Indonesia in Jakarta veranstaltet, und man hatte mich eingeladen, über die Unterschiede zwischen indonesischen und europäischen Märchen (speziell aus der Sammlung der Brüder Grimm) zu referieren. Da ich kein indonesisches Märchen kannte, bat ich im Vorfeld, mir den in Indonesien bekanntesten Märchentext zu senden. Ich erhielt postwendend eine englischsprachige Version unter dem Titel „Bawang Putih und Bawang Merab“.
           
            „Früher lebte einmal in einem Dorf mit Namen Dadapan eine Witwe. Sie wurde Mak Janda dadapan genannt. Mak Janda hatte ein leibliches Kind mit Namen Bawang Merab und ein Stiefkind mit Namen Bawang Putih. Ihr eigenes Kind verhätschelte Mak Janda, aber zu ihrem Stiefkind war sie sehr roh.“
 
Soweit die auch im europäischen Märchen übliche Einleitung mit der nichts Gutes erwarten lassenden familiären Situation. Nur die gehäuften Namensnennungen von Personen und Orten weicht vom Typus des Grimm'schen Märchens auffällig ab. Als meine erste Lektüre bis zum Beginn der eigentlichen Handlung gelangt war, wuchs mein Staunen von Satz zu Satz:
                       
            „Eines Tages erhielt Bawang Putih den Auftrag zu waschen. Sie wusch die Wäsche am Fluß. Sie hatte nicht bemerkt, daß eines ihrer Wäschestücke verschwunden war. Es war wohl fortgetrieben worden.“
 
Heimgekehrt, wird sie von der Stiefmutter grün und blau geschlagen, und diese befiehlt ihr, die verschwundene Jacke zu suchen und zurück zu bringen. Bawan Putih läuft flußabwärts, um das Wäschestück wiederzufinden.
 
Das kam mir denn doch sofort sehr bekannt vor, denn die Handlung im „Frau Holle“-Märchen der Brüder Grimm hat einen durchaus vergleichbaren Anfang. Eine Mutter verhätschelt ihr eigenes nichtsnutziges Kind und kujoniert ihre fleißige Stieftochter. Diese muß eines Tages am Brunnen spinnen, bis ihr die Finger bluten; sie will die blutig gewordene Spule abwaschen, doch die fällt in das tiefe Brunnenwasser. Zu Hause hört sie von der Stiefmutter ihr Todesurteil: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Die Tochter springt in den Brunnen und verliert die Besinnung.
Die Familienkonstellation und die Charaktere der drei Frauen sind gleich. Die Märchenheldin wird jeweils zu Magdarbeiten gezwungen, die eine spinnt am Brunnen, die andere wäscht Kleidungsstücke im Fluß, wie das bis heute in ländlichen Gebieten Indonesiens noch der Brauch ist. Beide verlieren etwas und werden gezwungen, Spule oder Jacke – selbst bei Gefahr für Leib und Leben - wiederzubeschaffen. In beiden Geschichten ist das Wasser des Flusses bzw. des Brunnens ein gewichtiges und ebenfalls übereinstimmendes Motiv.
 
Bawang Putih kommt endlich zu einer Dämonin namens Nini Buto Ijo. Sie empfindet zuerst große Angst, doch dann putzt sie fleißig deren Haus und besorgt die Küchenarbeit (alle Küchengeräte sind aus Menschenknochen hergestellt). Als sie heimkehren will, gibt ihr Nini Buto einen Kürbis, aus dem Gold hervorquillt, und die verlorene Jacke. Die Grimm'sche Märchenheldin wacht im Reich der Frau Holle auf, die ebenfalls ein Häuschen bewohnt; nachdem sich ihre anfängliche Angst vor deren langen Zähnen gelegt hat, macht sie für die Frau mit dem Namen der germanischen Totengöttin (im indonesischen Märchen werden Knochen der Verstorbenen erwähnt) die häuslichen Arbeiten und sorgt dabei für den Winterschnee auf der Oberwelt. Beim Abschied überschüttet Frau Holle das Mädchen mit einem Goldregen und gibt ihr die verlorene Spule zurück. Auf die stupenden Parallelen zwischen den beiden Märchenfassungen braucht man nur hinzuweisen – sie sprechen für sich.
 
In beiden Märchen wollen die auf den Goldreichtum ihrer Stiefschwester neidischen Mädchen dasselbe Glück machen. Sie versagen indes bei den numinosen Frauen gänzlich. Die eine erhält einen Kürbis, aus dem Schlangen und abstoßendes Getier hervorkommen. „Da lief Bawang Merab aus Furcht davon“. Bei Grimm überschüttet Frau Holle das nichtsnutzige und freche Mädchen mit Pech das lebenslänglich kleben bleibt. Mit den vergleichbaren Bestrafungen brechen beide Märchen ab. Das zu erwartende Happyend der Hochzeit mit einem König oder Prinzen (und gegebenenfalls weiteren Intrigen der Stiefmutter), das sonst in vielen Märchen der Weltliteratur die Regel ist, wird nicht erzählt.
 
Als man in Jakarta die Bawang Putih-Geschichte als dás indonesische Nationalmärchen schlechthin vorstellte und die Urheberschaft für das Märchen in Java als unbezweifelbar hinstellte, mußte ich zu meinem und meiner Gastgeber Leidwesen sehr widersprechen. Ich wies auf die Parallelen hin, worauf erwidert wurde, daß diese noch gar nichts über den Ursprung dieses Märchens aussagten, das hierzulande durch viele Generationen mündlich von den Vätern auf die Kinder gekommen sei. Meine Ansicht, daß es damit im Strom der verändernden oralen Tradition natürlich zu einem in Indonesien allbekannten Märchen geworden sei, milderte die heftigen Proteste nicht: Es sei und bleibe ihr Märchen, und die Brüder Grimm hätten auf unbekannten Wegen diesen Text kennengelernt und in ihre Sammlung von 1812 aufgenommen.
 
Das konnte so nicht stehen bleiben. Ich wies darauf hin, daß die frühesten Übersetzungen Grimm'scher Märchen in den Niederlanden erschienen sind, und der Kalauer, daß die Holländer natürlich besonders an „Frau Holle“ interessiert waren, hat einen wahren Kern. Die Geschichte kam schon früh in holländische Lesebücher, die denn auch in Niederländisch -Indien - wie Indonesien vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein als holländische Kolonie hieß - für die dortige Jugend in Gebrauch waren, sofern sie eine Schule der Kolonialherren besuchten. Da lernten die Jungen denn „Frau Holle“ in holländischer Sprache kennen, prägten sich die Geschichte mehr oder weniger ein, und als sie selbst später Kinder hatten, erzählten sie diesen „Frau Holle“ natürlich in indonesischer Sprache – wahrscheinlich meist aus der Erinnerung und ohne nach so vielen Jahren nochmals in den Text zu sehen. Wenn die neue Generation herangewachsen war, verfuhr sie wohl genau so, und die direkte Herkunft aus Grimms Märchen via holländischer Lesebücher war längst vergessen. So verfestigte sich der Eindruck und zuletzt der felsenfeste Glaube, dieses Märchen habe es schon immer in indonesischer Sprache gegeben, es sei sozusagen das geistige Eigentum des Landes.
 
Es war äußerst mühsam, die etwas aufgebrachten Kollegen mit solchen Argumenten über die tatsächliche Herkunft dieses tiefsinnigen Märchens zu informieren. Erst der letzte Hinweis überzeugte dann aber doch endgültig: Schon um 1900 waren in aller Welt mehr als 300 Varianten des „Frau Holle“-Märchens gesammelt worden. Sie enden fast alle mit der königlichen Hochzeit des fleißigen Mädchens (und in solchen 'kompletten' Fassungen haben die Reifeprüfungen bei Frau Holle ihren Sinn). Nur die Grimm'sche und die indonesische Fassungen sowie die darauf basierenden Traditionen brechen als offensichtliche Fragmente genau an derselben Stelle ab (wenn man das im Blick auf das jeweils fehlende Finale mit der Hochzeit bedenkt, ist die Reifeprüfung bei Grimm letztlich ein stumpfes Motiv; in der indonesischen Adaption ist sie bezeichnenderweise weggefallen). Die Grimms wollten den in der Erzählung ihrer Beiträgerin fehlenden typischen Märchenschluß nicht aus eigener Machtvollkommenheit ergänzen, und die indonesischen Märchenfreunde kannten eben zunächst nur die Grimm'sche Fassung in holländischer Sprache.
Am Abend des Symposions waren alle versöhnt, und viele Nationalitäten freuten sich gemeinsam an den wunderbaren grenzüberschreitenden Märchenüberlieferungen in aller Welt.
 
Der deutsche Märchenforscher sieht die weltweite Verbreitung der Grimm'schen Märchen mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Grimm begegnet einem in jedem Land der Welt, und die frühe Rezeption der ältesten seriösen und wissenschaftlich fundierten Märchenedition (Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ sind das am weitesten und am meisten übersetzte deutschsprachige Buch aller Zeiten) kann uns hierzulande nur freuen; zu bedauern ist es, daß die frühen Übersetzungen und begeisterte Aufnahme dieser Märchen oft die einheimische, noch nicht zu Papier gebrachte Märchenüberlieferung unwillentlich ge- oder gar zerstört hat. In jüngerer Zeit bekommen Märchensammler in den entlegensten Gebieten Afrikas oder Australiens fast immer nur Grimm'sche Märchen zu hören. Die Erzähler wissen in der Regel überhaupt nichts von den in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert aufgezeichneten Texten. Wenn sie es - wie etwa durchgängig in Japan - wissen, so bringen sie den Grimms und deren unsterblichem Buch die größte Ehrerbietung entgegen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018