Von der Niedertracht der Details

Der neue Roman von Wilhelm Genazino: „Mittelmäßiges Heimweh“ - gelesen

von Stefan Schmöe
Von der Niedertracht der Details

Mehr als nur „mittelmäßiges“ Heimweh gesteht sich der monologisierende Erzähler in Wilhelm Genazinos neuem Roman nicht zu, wie er überhaupt seine Existenz als durch und durch mittelmäßig empfindet. Dabei sind seine Lebensumstände – ein steiler beruflicher Aufstieg und gegenläufig dazu das endgültige Scheitern der Ehe (für ihn der Gipfel der Mittelmäßigkeit) – durchaus markante Einschnitte im Leben des Dieter Rotmund. Doch diese Ereignisse werden in seiner subjektiven Wahrnehmung aufgelöst in eine Fülle von (oft sehr komischen) Nebensächlichkeiten. „Mir fällt nichts ein, womit ich die Niedertracht der Details vertreiben könnte“ heißt es treffend an einer Stelle. Der surreale Verlust eines Ohrs, später auch noch eines kleinen Zehs (ganz unblutig ohne Schmerz und Unfall, die Körperteile liegen plötzlich einfach so herum) sind Zeichen der seelischen Versehrung, die es diskret vor anderen zu verstecken gilt.

Der Antiheld des Romans ist von Beruf Controller; kontrollieren lassen sich die Dinge freilich nicht – selbst die (erfolgreichen) beruflichen Entscheidungen sind von berückender Schlichtheit. In der Bankenstadt Frankfurt ist er ein Heimatloser, dessen Appartement nur eine Übergangslösung ist; die Zweitwohnung im Schwarzwald geht verloren, als er von Frau und Tochter verlassen wird. Der Ort, dem das Heimweh gilt, bleibt aber abstrakt, es verbirgt sich dahinter der Traum nach der Verwirklichung von (Liebes-)Glück. Genazino überläßt seinen Erzähler der Orientierungs- wie Hoffnungslosigkeit: „Das Deprimierende ist, daß ich nicht angeben kann, was sich ändern müßte, damit ich mich wohlfühle; ich kann immer nur denken, daß alles unzureichend ist und daß ich mich von allem, was es gibt, entfernen möchte, und zwar sofort und ohne Umkehr.“ Die midlife crisis des Controllers wird zur Zustandsbeschreibung einer erbarmungslos banalen Gegenwart.

Mit stilistischer Brillanz bewältigt Genazino die Gratwanderung zwischen unverhohlenem Pathos und scharfzüngiger Selbstironie. Die Hoffnungslosigkeit der Situation ist kein Grund, ernst zu bleiben – und so ist „Mittelmäßiges Heimweh“ ein Lesevergnügen ersten Ranges, dessen depressive Stimmung von der absurden Komik der Sprache gnädig abgefedert wird. Vielleicht kann man dem Roman allzu große Nähe zu seinem Vorgänger „Die Liebesblödigkeit“ vorwerfen, den er (mit schwärzerem Grundton) variiert. Wer einen „neuen“, ganz anderen Genazino erwartet, wird daher enttäuscht sein. Eher gerecht wird man dem Werk, wenn man es als Ergänzung zur „Liebesblödigkeit“ liest: Die Apokalypse, die dort noch als vornehmlich rhetorisches Gespenst aufleuchtet, scheint im „Mittelmäßigen Heimweh“ tatsächlich zu beginnen. „Bis sie wirklich erkannt werden wird, werden noch Monate vergehen“ heißt es hier. Wilhelm Genazino erweist sich als wahrer Apokalyptiker unserer Zeit.

Jetzt auch als Hörbuch bei Hoffmann und Campe erscheinen und in den Musenblättern hier besprochen.



Beispielbild

Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh
Roman

© 2007 Carl Hanser Verlag, München
192 Seiten, Flexibler Einband

17,90 €

ISBN-10: 3-446-20818-6
ISBN-13: 978-3-446-20818-6

Weitere Informationen unter:
www.hanser.de