Ein starkes Mädchen

Renate Welsh - "Dr. Chicken Soup"

von Jürgen Kasten
Ein starker Roman
 
Es ist ein Glücksfall für die Kinderliteratur, daß es Schriftstellerinnen wie Renate Welsh gibt. Nicht viele können einen solch traurig schönen Roman schreiben, der dennoch viele Glücksmomente ins triste Alltagsleben streut und zum Ende hin einen Optimismus versprüht, der Raum zum Weiterspinnen der Geschichte gibt.
Julia braucht zwei Euro für die Schule, weil jemand kommt, der aus seinem Buch vorliest. „Früher haben wir selber gelesen“, sagt die Mutter sarkastisch. Ein hilfloser Einwand. Sie hat keine zwei Euro, kommt aber am Nachmittag mit frisch lackierten Fingernägeln von der Maniküre nach Hause. Der vorwurfsvolle Blick Julias führt zu einem Wutausbruch. Melanie, die Mutter, entschuldigt sich dafür, rechtfertigt sich. Sie ist selber mit sich und der Lebenssituation unzufrieden. Als Jugendliche hat sie die Schule abgebrochen, arbeitet jetzt als Kassiererin im Supermarkt. Julias Oma kommt zu Besuch, kocht, putzt, räumt auf und hilft mit etwas Geld aus. Sie schimpft aber auch mit Mama. Die sei selber schuld an ihrer Situation, sie soll sich nicht so hängen lassen.
 
Julia ist unglücklich. In der Schule wird sie ausgegrenzt. Die alten Klamotten, die sie trägt, werden von den Mitschülern verlacht. Zu Geburtstagen wird sie nicht eingeladen, denn „wer nicht selber einlädt, wird auch nicht von anderen eingeladen“. Wie sollte sie auch einladen? Mama und sie haben kaum genug Geld für eigene Lebensmittel. Alles ändert sich, als Mama Marcel kennen lernt. Der ist zwar auch arm, aber reich an Lebensfreude und Optimismus. In Julias Klasse wird ein neues Mädchen aufgenommen. Leyla kann noch kein Deutsch. Julia hilft ihr, wird zur Freundin und bald auch zum Vorbild für andere Schüler.
Finanziell geht es weiter abwärts. Mama wird krank und verliert ihre Arbeit. Zur Aufhellung trauriger Momente und als Allheilmittel gegen sämtliche Krankheiten serviert Leylas Oma immer eine Hühnersuppe. „Meine Oma auch“, sagt Julia. „Dr. Chicken Soup“, lacht Leyla.
 
Daher stammt der Titel des Romans, unglücklich gewählt, wie ich finde. Aber ein starker Roman, der die Lebenssituation einer allein erziehenden Mutter und ihrer 10-jährigen Tochter in einer mitreißenden Geschichte erzählt. Sie fordert kein Mitgefühl ein, regt aber zum Nachdenken an, glänzt durch gelungene Dialoge und eine feine Sprache, wie sie jünger und quirliger nicht sein kann, die Sprache eines aufgeweckten 10-jährigen Mädchens.
Die Autorin Renate Welsh lebt in Wien. Sie ist übrigens 74 Jahre alt.
 
Beispielbild

Renate Welsh
Dr. Chicken Soup
 
Illustration: Friederike Grünstich
 
© 2011 Residenz Verlag (Nilpferd)
Hardcover, 144 Seiten
ISBN: 978-3-7017-2099-6
€ 13,90, sFr. 20,90
 
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