Kuss(t)räume

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Kuss(t)räume

25. Januar: Kussräume. Ich hatte mich bei der VHS angemeldet: „Wege aus der Isolation“. Es war ein Kursus, wo man in zehn Schritten seine Schüchternheit überwinden konnte. Man lernte auf andere Menschen zuzugehen, um sie von sich zu überzeugen. Ich freute mich sehr auf diese Fortbildung, weil ich bei der Anmeldung gelesen hatte, daß dieser Lehrgang in einem Kussraum stattfinden würde. Ein Kussraum hörte sich interessant an, als würde man die Praxis über die Theorie stellen. Später erfuhr ich dann, daß dies kein „Kussraum“ war sondern ein „Kursraum“. Welch eine Enttäuschung. Ich saß also wie bescheuert seit zwei Stunden auf einem Stuhl und wunderte mich, daß keiner anfing mich zu umwerben, geschweige denn mich zu küssen. Was war da los? Ich hörte stundenlang dieser Tussi zu, die mir dauernd ein Ohr abquatschte und fragte mich, wann endlich der praktische Teil beginnen würde. Später klärte man mich dann auf, aber da war mir mein Irrtum auch schon aufgefallen. Wenn sich in einem Raum nicht geküsst wird, kann das nur ein Kursraum sein. Einen Kussraum stelle ich mir ganz anders vor.
 
27. Januar: Böses Erwachen. Während die Gläubigen in der Kirche zu ihrem Gott beteten, schrieben Politessen vor der Kirche die Kennzeichen ihrer falsch geparkten Autos auf. Das wird ein böses Erwachen geben.
 
28. Januar: Der Mayonnaisespender. Der Mann hatte sich vom Mayonnaisespender vollspritzen lassen. Er war von unten bis oben bekleckert. Er verdrehte die Augen und ging mit erhobenen Armen zum Waschbecken. „Da haben Sie aber noch mal Glück gehabt, daß es kein Senf war“, sagte ich, um ein wenig Mitgefühl zu zeigen. Da drehte sich der Mann um und schüttelte mißmutig den Kopf. Ich spürte, was der Mayonnaisenmann sagen wollte. Im Grunde war es egal. Im Grunde war es egal, ob man mit Mayonnaise oder mit Senf bekleckert war. Vielleicht war es nur ein wenig männlicher voller Senfkleckse zu sein. Es hätte mehr nach einem Kampf ausgesehen.
 
 

© Erwin Grosche - für die Musenblätter 2012
Redaktion: Frank Becker