November-Gedanken
Roter Mohn auf Flanderns Feldern
Seit Jahr und Tag hängt die Uhrkette meines Großvaters auf Augenhöhe vor mir an meinem Schreibsekretär. Die Kette ist nicht aus Silber gearbeitet, sondern nur aus Alpaka. Der Großvater war kein reicher Mann. Als ich vor über einem halben Jahrhundert Soldat bei der NVA wurde, hat Opa Oskar, den ich sehr verehrte, mir diese mit den Worten geschenkt, ich solle auf mich aufpassen. Die zur Uhrkette dazugehörige Taschenuhr war seinerzeit schon nicht mehr dabei, gewiß war sie längst im Zeitenlauf verschütt gegangen. Was mich in meiner Kindheit an Großvaters Uhrkette so faszinierte, war das daran befestigte Geschoß, das aus einem französischen Karabiner stammte. Die
Wer von uns Nachgeborenen denkt heute noch an die Grauen des Weltkrieges 1914 bis 1918? Ja, am Volkstrauertag wird noch daran erinnert, mehr Pflichtritual als Herzenssache. Das Vergessen mag auch daraus resultieren, weil für uns Deutsche der Zweite Weltkrieg, den Deutschland vom Zaun gebrochen hatte, eben nicht nur ein „Soldatenkrieg“ war, sondern letztlich unser ganzes Volk in die endgültige Katastrophe geführt hat. Und deshalb sind die Erinnerungen an die Millionen Toten der Front, der Vertreibungen, des Bombenkrieges und der Konzentrationslager im Gedächtnis des deutschen Volkes lebendiger geblieben.
Ganz im Gegensatz zu den Briten, Belgiern und Franzosen. Besonders für die Menschen im englischsprachigen Raum gilt der 11. November eines jeden Jahres als Remembrance Day zur Erinnerung an die zahl- und namenlosen Opfer des Ersten Weltkrieges, der für die Völker in diesen Ländern der „Krieg“ schlechthin gewesen ist. Und Symbol dieses Gedenktages sind künstliche rote Klatschmohn-Blumen (engl. poppy), mit denen die Gräber der Kriegstoten geschmückt werden. Auch am Revers wird eine Mohnblume getragen.
Das geht auf den Mediziner und Schriftsteller John Alexander McCrae (1872-1918) zurück, der als kanadischer Sanitätsoffizier an der Westfront diente. Am 2. Mai 1915 fiel bei Ypern in Flandern sein bester Freund, der junge Lieutnant Alexis Helmer. Nach der Beerdigung des Freundes sah anderntags McCrae nahe dem frischen Grab Klatschmohn aufblühen, später blühte dann der Mohn überall zwischen den Gräbern der Gefallenen. Das regte den kriegsmüden Arzt und Schriftsteller zu dem Gedicht „In Flanders Field“ (Auf Flanderns Feldern) an, das zu den bekanntesten englischsprachigen Gedichten über den Ersten Weltkrieg wurde. Der rote Klatschmohn erinnert an das vergossene Blut der Gefallenen, und doch wird im Gedicht auch die Hoffnung genährt, daß das Leben weitergeht. Das Gedicht wurde noch im Dezember 1915 im britischen Magazin Punch erstmals veröffentlicht. Und so wurde der rote Klatschmohn bis heute zum Symbol für die Gefallenen beider Weltkriege.
Eine Nachbemerkung: Es sollte nicht vergessen werden - deutsche Truppen griffen während der Flandernschlacht bei Ypern am 22. April 1915 erstmals die Alliierten mit Chlorgas an und eröffneten damit den Gaskrieg. Man schätzt, daß mindestens 10.000 Soldaten damals einen qualvollen Erstickungstod erlitten, über eine schützende Gasmaske verfügte keiner der Männer.
Redaktion: Frank Becker |