November-Gedanken

Roter Mohn auf Flanderns Feldern

von Jürgen Koller

November-Gedanken
Roter Mohn auf Flanderns Feldern

Seit Jahr und Tag hängt die Uhrkette meines Großvaters auf Augenhöhe vor mir an meinem Schreibsekretär. Die Kette ist nicht aus Silber gearbeitet, sondern nur aus Alpaka. Der Großvater war kein reicher Mann. Als ich vor über einem halben Jahrhundert Soldat bei der NVA wurde, hat Opa Oskar, den ich sehr verehrte, mir diese mit den Worten geschenkt, ich solle auf mich aufpassen. Die zur Uhrkette dazugehörige Taschenuhr war seinerzeit schon nicht mehr dabei, gewiß war sie längst im Zeitenlauf verschütt gegangen. Was mich in meiner Kindheit an Großvaters Uhrkette so faszinierte, war das daran befestigte Geschoß, das aus einem französischen Karabiner stammte. Die

Foto © Margot Koller
Geschichte dazu hat mir Opa Oskar immer wieder erzählen müssen. Der Großvater, Jahrgang 1890, war während der vier Jahre des Ersten Weltkrieges als waffenloser Sanitäter an der West-Front eingesetzt. Von dem unbeschreiblichen Grauen des Stellungskrieges hat er mir kaum etwas erzählt, aber davon, daß die Sanitäts-Soldaten in den Feuerpausen immer wieder unter Beschuß genommen wurden, wenn sie verletzte Kameraden bergen wollten. Und dann passierte es, irgendwo auf Flanderns Schlachtfeldern, ein einzelner Schuß, der meinem Großvater im Niemandsland zwischen den Schützengräben galt. Die Kugel kam von weit her, hatte schon an Kraft verloren und blieb im ledernen Stiefelschaft stecken. Kein „Heimatschuß“, nur eine leichte Fleischwunde. Aber das Stahlmantel-Geschoss vom Kaliber 7.65, an dem noch die schrägen Züge des Gewehrlaufs zu sehen sind, hat er über all die Kriegsmonate aufbewahrt und später dann, vielleicht als Glücksbringer, an seiner Uhrkette getragen. Von schweren Verletzungen blieb er verschont, aber Kampf-Gas hat er doch schlucken müssen. So lange ich ihn kannte, war mein Großvater krank an Lunge, Magen und Gedärm. Großvater ist schon lange tot, aber seine Erzählungen vom „Großen Krieg der weißen Männer“, habe ich nie vergessen können. Diesen Titel erfand übrigens der Schriftsteller Arnold Zweig für seinen Romanzyklus über den Ersten Weltkrieg – mit den Romanen “Junge Frau von 1914“, „Erziehung vor Verdun“, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ und „Einsetzung eines Königs“.
 
Wer von uns Nachgeborenen denkt heute noch an die Grauen des Weltkrieges 1914 bis 1918? Ja, am Volkstrauertag wird noch daran erinnert, mehr Pflichtritual als Herzenssache. Das Vergessen mag auch daraus resultieren, weil für uns Deutsche der Zweite Weltkrieg, den Deutschland vom Zaun gebrochen hatte, eben nicht nur ein „Soldatenkrieg“ war, sondern letztlich unser ganzes Volk in die endgültige Katastrophe geführt hat. Und deshalb sind die Erinnerungen an die Millionen Toten der Front, der Vertreibungen, des Bombenkrieges und der Konzentrationslager im Gedächtnis des deutschen Volkes lebendiger geblieben.
Ganz im Gegensatz zu den Briten, Belgiern und Franzosen. Besonders für die Menschen im englischsprachigen Raum gilt der 11. November eines jeden Jahres als Remembrance Day zur Erinnerung an die zahl- und namenlosen Opfer des Ersten Weltkrieges, der für die Völker in diesen Ländern der „Krieg“ schlechthin gewesen ist. Und Symbol dieses Gedenktages sind künstliche rote Klatschmohn-Blumen (engl. poppy), mit denen die Gräber der Kriegstoten geschmückt werden. Auch am Revers wird eine Mohnblume getragen.


Foto © Frank Becker
 
Aber warum Klatschmohn?

Das geht auf den Mediziner und Schriftsteller John Alexander McCrae (1872-1918) zurück, der als kanadischer Sanitätsoffizier an der Westfront diente. Am 2. Mai 1915 fiel bei Ypern in Flandern sein bester Freund, der junge Lieutnant Alexis Helmer. Nach der Beerdigung des Freundes sah anderntags McCrae nahe dem frischen Grab Klatschmohn aufblühen, später blühte dann der Mohn überall zwischen den Gräbern der Gefallenen. Das regte den kriegsmüden Arzt und Schriftsteller zu dem Gedicht „In Flanders Field“ (Auf Flanderns Feldern) an, das zu den bekanntesten englischsprachigen Gedichten über den Ersten Weltkrieg wurde. Der rote Klatschmohn erinnert an das vergossene Blut der Gefallenen, und doch wird im Gedicht auch die Hoffnung genährt, daß das Leben weitergeht. Das Gedicht wurde noch im Dezember 1915 im britischen Magazin Punch erstmals veröffentlicht.

Und so wurde der rote Klatschmohn bis heute zum Symbol für die Gefallenen beider Weltkriege.




In Flanders Fields
 
In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.
 
We are the Dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Take up our quarrel with the foe:
 To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.
 
         

Auf Flanderns Feldern

Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn
Zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe,
Die unseren Platz markieren; und am Himmel
Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend
Unten zwischen den Kanonen kaum gehört.

Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch
Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,
Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir
Auf Flanderns Feldern.

Nehmt auf unseren Streit mit dem Feind:
aus sinkender Hand werfen wir Euch
Die Fackel zu, die Eure sei, sie hoch zu halten.
Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben
So werden wir nicht schlafen, obgleich Mohn wächst
Auf Flanderns Feldern.

 


Eine Nachbemerkung:
Es sollte nicht vergessen werden - deutsche Truppen griffen während der Flandernschlacht bei Ypern am 22. April 1915 erstmals die Alliierten mit Chlorgas an und eröffneten damit den Gaskrieg. Man schätzt, daß mindestens 10.000 Soldaten damals einen qualvollen Erstickungstod erlitten, über eine schützende Gasmaske verfügte keiner der Männer.

Redaktion: Frank Becker