Aus anderer Sicht

Die frühe Berliner Mauer

von Johannes Vesper
Aus anderer Sicht
Die frühe Berliner Mauer
 
Am 13. August 1961 war Baubeginn, gestanden hat sie 28 Jahre und seit 21 Jahren existiert sie nicht mehr: die Mauer. Der Begriff wurde auf die Berliner Mauer eingeengt, ergibt doch die Suche bei Google eine Vielzahl von Hinweisen auf die Grenzbefestigung zwischen Treptow und Pankow, 43 km lang und Sinnbild der DDR. Dabei hatte die pioniertechnische Anlage (offizielle DDR-Bezeichnung!) mit einer einfachen Mauer im ursprünglichen Sinne wenig zu tun. Sie umfasste Hinterlandmauer, Beobachtungstürme, Lichttrasse, Kolonnenweg, geharkten Kontrollstreifen, Graben gegen KFZ-Durchbruch und Vorderlandmauer. Allein diese war vom Westen aus sichtbar. Erst jetzt ist die Ansicht von Osten dokumentiert. Mit allen Mitteln sollte seit dem 13. August 1961 verhindert werden, daß die eigene Bevölkerung türmt. „Aus Scheiße Trillerpfeifen machen“ wird der Berliner dazu zitiert. Der Aufbau war später kompliziert, aber zunächst nicht genügend effizient. Erst ab 1965 wurde zunehmend auch Beton verbaut, dessen Brauchbarkeit für Sperranlagen schon beim Atlantik- und Westwall getestet worden war.

Der zu Beginn schlechte Zustand des Berliner Sperrwerkes wurde im Auftrag der (Ost-)Berliner Stadtkommandantur von 1964 an von den Grenzregimentern der DDR fotografisch dokumentiert. Die Fotografien waren für den internen Dienstgebrauch der Grenztruppen mit dem Ziele der Perfektionierung der Anlage erstellt worden zu Zeiten, als zunächst mit Stacheldraht aus vorhandenen Friedhofs- Fabrik- und Häusermauern das Sperrwerk provisorisch gebaut wurde.
 

Dokumentiert wurde aber noch anderes: Nach den Dienstvorschriften der DDR-Grenztruppen war auch bei Fluchtversuchen und Grenzverletzungen der „Einsatz von Fotographen zur Schaffung von Bilddokumenten“ vorgesehen. Auch die Kommunikation über die Mauer hinweg wurde von den Grenztruppen protokolliert
Fotos und Akten sind selbstverständlich ordentlich archiviert worden. Das Material wurde dann vergessen, ruhte in einer Kiste und wurde von Annette Gröschner und Arved Messmer - beide 1964 geboren, Annette Gröschner im Osten, Arwed Messmer im Westen - unter den Akten der DDR-Grenztruppen im Militärischen Zwischenarchiv in Potsdam bei der Suche nach Material für ein anderes Projekt schon vor Jahren entdeckt, aber erst kürzlich aufgearbeitet und Unter den Linden ausgestellt. Parallel zu der Ausstellung, die am 03.10.11 endete, erschien bei Hatje Canz ein Katalog, in dem das reiche Material jetzt vorzüglich archiviert ist. 

 
324 Panoramaaufnahmen der Mauer wurden aus der von den Grenzregimentern der DDR angefertigten Fotodokumentation der Jahre 1965/66 von Arwed Messmer digital erstellt. Aus zahllosen Kleinbildnegativen des Formats 24x36 entstanden Bildpanoramen, deren perspektivischen Linien auf den Betrachter zu laufen. Die jeweilige Aufnahmeposition ist mit aktuellen Geodaten angegeben, sodaß die Aufnahmen heute exakt nachgeschossen werden könnten. Als Bildunterschriften der Mauer-Panoramen dienen von den DDR-Truppen protokollierte Rufe an der Mauer.
Auf zusätzlichen Fotos wurden Wachtürme, Tatorte, Porträts von Grenzsoldaten einheitlich erfaßt. Die Fotografien der Türme wurden von DDR-Behörden als Dokumentation nach 1961 erstellt. Für alle Türme liegen Datenblätter vor, in denen der bauliche Zustand, das Baujahr, das Baumaterial und die Maße angegeben sind. Etliche erinnern an den Hochsitz von Jägern im Wald, einige an Toilettenhäuschen der Nachkriegszeit, andere an Kasbahs aus Marokko. Manche Türme scheinen an die Mauer angeklebt.
Auf den Tatortfotos sind Tote und Verletzte nicht abgebildet. Aber auf einigen Fotos sieht man die Überbleibsel eines Fluchtversuchs: einen Schuh, einen Stoffausriß im Stacheldraht. Porträts von Grenzsoldaten wurden dem Ehrenbuch eines Grenzregiments übernommen. Der Fotohistorie werden mauerhistorische schriftliche Zeugnisse/Texte gegenübergestellt. Aus den schriftlichen Dokumentationen der Fluchtversuche hat Annette Gröschner kurze Berichte gemacht im Sinne nüchterner dokumentarischer Kurzgeschichten.
 
Grenzsoldaten lobende Bildunterschriften im Ehrenbuch des Grenzregimentes werden unabhängig von den Porträts präsentiert und sprechen für sich: „Er ist in der Lage, eine ständige Verbindung zu halten. Seine Bedienung konnte wiederholt als Beste im sozialistischen Wettbewerb ausgezeichnet werden. Er hat durch sein umsichtiges Verhalten Grenzdurchbrüche verhindert. Beim Artilleriegefechtschießen trug er wesentlich zur Erfüllung der Aufgaben seiner Bedienung bei. Hervorzuheben ist der ständig einsatzbereite Zustand seines Krades. Er war ein immer einsatzbereiter Diensthundeführer. Er erfüllt als Richtschütze seine Aufgaben vorbildlich. Durch persönlichen Mut und hohe Wachsamkeit verhinderte er einen Grenzdurchbruch.“
Auch zu Disziplin und Strafe gibt es eine Dokumentation: „Er unterhielt sich während des Dienstes mit einer weiblichen Person. Er will aus der Partei austreten. Besonders stark diskutiert er über Befehle. Durch ungenügende
Wachsamkeit ließ er einen Grenzdurchbruch zu. Er mußte wegen Trunkenheit im Liegen angezogen werden. Er hat nicht mit kurzen Feuerstößen, sondern mit Einzelfeuer geschossen. usw. usw.“
 
Diese Geschichte der Berliner Mauer aus Bild und Text dokumentiert, mit welchen Mitteln die DDR ihr Staatsgebiet als territoriales
Flächengefängnis ausgebaut hat. Spätere vergleichbare Bauwerke wie die Israelischen Sperranlagen im Westjordanland, die Sperranlage um den Gazastreifen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA mit dem 1125 km langen Grenzzaun (erbaut seit 2006) wurden zu einem anderen Zweck gebaut. Der Fall der Mauer ist wahrscheinlich die große Kulturleistung Europas in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert. Da die Mauer selbst ja vollständig aus dem Stadtbild verschwunden ist und damit auch aus der kollektiven Erinnerung verschwinden wird, ist es wünschenswert, daß diese in ihrer Nüchternheit und Sachlichkeit beeindruckende Dokumentation auf Dauer der Öffentlichkeit präsentiert werden könnte. Vielleicht ist das ja möglich, im restaurierten Berliner „Tränenpalast“, dem ehemaligen Zollabfertigungsgebäude, dessen helle, leicht, nahezu elegant moderne Architektur (Architekt Horst Lüderitz) zu seinem ehemaligen Zweck nicht recht passen will. Er steht nördlich des Bahnhofs Friedrichstraße direkt an der Spree und wurde kürzlich als Museum für den Alltag der deutschen Teilung eingeweiht.
 
Aus anderer Sicht. The Other View - Annette Gröschner/Arwed Messmer (Herausgeber)
Die frühe Berliner Mauer / The Early Berlin Wall. Katalog zur Ausstellung
© 2011 Verlag Hatje Cantz, Dtsch.-Engl., 747 Seiten, 324 Mauer-Panoramen, 79 ganzseitige Fotos von Wachtürmen, 51 ganzseitige Portraits von Grenzsoldaten, Fotografien von Tatorten auf 68 Seiten, Texte in Deutsch und Englisch, ISBN 978-3-7757-3207-9
49,80 €

© für alle Abbildungen: Bundesarchiv
Weitere Informationen unter: www.hatjecantz.de

Redaktion: Frank Becker