Auslandserfahrungen - und andere Praxistests

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Auslandserfahrungen
und andere Praxistests


11. Oktober: Vor der Schweizer Grenze: Er rief schnell seine Freundin an und sagte ihr, daß er sie lieben würde. So konnte er relativ günstig seine Liebe zeigen, bevor ihm die Auslandtarife die Romantik versauten.
 
13. Oktober: Wir Schönen sollten uns in Anbetracht der nicht so Schönen zurücknehmen und auf unsere Mängel hinweisen und daß wir uns selbst nichts aus Schönheit machen. Wir Glücklichen sollten uns in Anbetracht der nicht so Glücklichen zurücknehmen und auf unser Unglück hinweisen und daß wir uns selbst nichts aus Glück machen. Wir Verliebten sollten uns in Anbetracht der nicht so Verliebten zurücknehmen und auf unsere Gleichgültigkeit hinweisen und daß wir uns selbst nichts aus dem Verliebtsein machen. Wir Reichen sollten uns in Anbetracht der nicht so Reichen zurücknehmen und auf unsere Schulden hinweisen und daß wir uns selbst nichts aus Reichtum machen. Alles hat seine Zeit und nichts ist von Dauer.
 
15. Oktober: Als er in dem fremden Land aus dem Auto stieg, blieb er auf dem Bürgersteig stehen. Er schaute lächelnd nach vorne und ließ die schönen Frauen an sich vorüberziehen. Keine drehte sich nach ihm um oder zwinkerte ihm zu. Schade, dachte er. Er hatte gehofft vielleicht wieder modern zu sein. „Vielleicht ist hier gerade mein Typ gefragt“, rief er. „Vielleicht haben hier all die schönen Frauen nur auf mich gewartet.“ Es konnte doch sein, daß er in diesem Land gerade der Mensch war, von dem alle träumten. Leider konnte er keine besondere Aufwertung entdecken. „Dann muß ich auch hier so tun, als wäre ich etwas Besonderes“, flüsterte er „ bis ich die treffe, die zu mir sagt: Du brauchst dich nicht zu verstellen. Für mich bist du, so wie du bist, das Maß aller Dinge.“



© Erwin Grosche - für die Musenblätter 2011