Charité

von Horst Wolf Müller

©  Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Charité
 
Mertes: Prosit, Mitstreiter, daß unser Stammtisch noch lange lebe. Daß wir ihn nicht überleben. Aber ich sag euch eins: der Krach hier ist nicht mehr auszuhalten. Wißt ihr, warum hier so geschrieen wird? Günther, du sitzt zwei Meter von mir weg und ich versteh von dir kein einziges Wort. Dabei haste ein interessantes Thema. Gerichtsmedizin. Würd ich gern was mitkriegen. Ich schätze, du sprichst von der Rosa Luxemburg? Nee? Dann sag ich dir aber was davon. Sie haben jetzt in der Charité herausgefunden, daß sie es ist, aber ohne Kopf. Sie ließ sich auch ohne identifizieren. Es gibt nämlich eine Identität, die sich alleine auf dem Rumpf aufbaut. Ich kann hier keine Einzelheiten bekannt geben, sonst schmeckt euch das Bier nit mehr, aber ihr könnt versichert sein: Es ist Rosa.
Der ganze Keller der Pathologie ist voll von irgendwelchen Umgebrachten oder eigenhändig Getöteten oder Verstümmelten. Die liegen da hinter Glas, daß du denkst, du bist in einem unterirdischen Aquarium. Du kriegst wirklich mit der Zeit zu viel in diesem Monstrositätenkabinett. Und das meiste davon ist entweder ausgewertet oder wird es noch, da haben sie sich entweder irgendein Organ rauspräpariert, das kann ne Leber sin oder ne Niere, oder mehrere, oder sie haben einfach Gewebeproben entnommen, wie das im Fachjargon so unverdächtig heeß. Es ist ihnen kein Spender zu primitiv. Selbst der unverfrorenste Volksverhetzer taugt hier noch als Ersatzteillager. Vor der Rosa Luxemburg werden sie ja hoffentlich Halt gemacht haben, denn irgendwo endet auch die Kompetenz des hartleibigsten Auswerters, es sei denn, er ist nicht Kriminologe sondern Krimineller.

Ich war nach meinem Besuch in der Charité ein veränderter Mensch, sag ich euch rundheraus, hab meine Patientenverfügung in et hinterste Eck des Safes geschmissen, dat können sich die ersten besten Einbrecher unter den Nagel reißen.
Seit die Anna tot ist, ist sowieso niemand mehr im Haus, der mich drängen könnt, meine physischen Hinterlassenschaften jemandem zu vermachen, oder überhaupt der Nachwelt aufzuschwatzen. Ich han ja nix gegen ne saubere Transplantation, sofern sie von einer erwiesenen Leiche stammt, aber wie oft wird gar nicht abgewartet, bis jemand ... na, ihr wißt schon. Man lebte früher einfach ruhiger mit dem Wissen, du ruhst in deiner ganzen Fülle im kühlen Erdreich, so wie der Schöpfer dich gemacht hat, und keine einzelnen Bestandteile zigeunern irgendwo in der Weltgeschichte erüm. Versteht mich bitte nicht falsch, ich versteh mich ja selber kaum. Jetzt is et auf einmal so ruhig in der Kneipe, jetzt könntste einen Cent runterfallen hören. Dabei hätt das, was ich gesagt han, jeder hier drin auch sagen künne. Oder meinste nit, Hermann? Du mit deinem halben Magen?
 
 
 
 
© Horst Wolf Müller