Wichtigkeiten

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Wichtigkeiten
und andere Geschichten


2. September: Unsichtbar. Bernard erlebte dieses Gefühl das erste Mal, als die Eltern seiner Frau zu Besuch kamen. Er war plötzlich nicht mehr da, er löste sich in Nichts auf. Bernard saß mit allen am Tisch und aß ein Stückchen Kuchen. Nicht nur, daß der Kuchen sich weigerte Geschmack anzunehmen. Er wurde davon auch nicht satt. Wie konnte Erdbeertorte nur täuschen? Bernard wurde blaß. Sein Verweilen bot der Gruppe einen Grund ihn zu übersehen. Seine Anwesenheit war ein ideales Motiv ihr Anderssein auszuspielen. „Als wäre ich ein Meerschweinchen, welches gekauft wurde um die Kinder zu erfreuen. So war ich der Mann einer Frau, der ab heute mit am Tisch saß“, klagte er. Später erfuhr er, daß es in anderen Ländern Sitte war, die Eltern der Frau, die man liebt, nackt zu empfangen. Man setzt sie auf Stühle, die wackeln und küßt ihre Tochter, wenn sie die Suppe löffeln. Neben ihnen hockt ein Hund, der ihnen beim Essen zusieht und gegenüber stehen Spiegel, die ihnen zeigen, wie alt sie geworden sind. So empfängt man die Eltern der Braut. So badet man im Licht. So geht man gegen Unsichtbarkeit an.
 
4. September: Unsinn. Es störte ihn nicht so sehr, daß er mit sich selbst sprach. Er sprach nur einen solchen Unsinn mit sich, als würde er sich selbst nicht ernst nehmen.
 
5. September: Die Schleife. Sie sprach ihn höflich auf seine Schuhbänder an. Die Schleife seines linken Schuhbandes hatte sich gelöst und schleifte über den Boden. Er seufzte. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn zurechtwies. „Ich bücke mich eigentlich erst, wenn ich mehrere Gründe habe.“ Sie sahen sich feindlich an, dann ließ sie ihr Taschentuch fallen.
 
7. September: Freiheit. Alle Autos hatten bei diesem Sauwetter die Scheibenwischer an. Wie äußere Zwänge manchmal ein individuelles Verhalten erschweren können.
 
8. September: Pflaumenkuchen. Herr Masolke wollte ein Beispiel dafür bringen, daß ein Auftritt ohne gute Bühnenbeleuchtung zwar geht, aber Licht erst die Bühne zu einer Vision führt. Er bemühte dazu den Vergleich, daß ein Pflaumenkuchen ohne Schlagsahne zwar möglich ist, aber eigentlich schon der Gedanke darüber so abwegig erscheint, daß man darüber nur lachen kann. In der Tat ist die Ausleuchtung einer Bühne sehr wichtig, aber fairerweise muß man zugeben, daß Schlagsahne auf einem Pflaumenkuchen natürlich wichtiger ist.



© Erwin Grosche - für die Musenblätter 2011
Redaktion: Frank Becker