Gernot oder König Alkohol

von Horst Wolf Müller
Gernot oder König Alkohol
 
Gernot hat den Alkohol besiegt. Ob es ein Pyrrhussieg war oder ein Waterloo, kann ich noch nicht sagen. Siege solcher Art sind sicher schmerzhaft und müssen durch die Verbannung des Besiegten ergänzt werden. Gernot hat ihn auch nicht gefeiert. Vor Jahren gab es einmal eine andere Feier: nachdem er drei Monate trocken geblieben war. Mit Tee und Kuchen wurde dieses Fest begangen und mit Ruhmreden, aber wenige Wochen später war ich Zeuge eines klaftertiefen Rückfalls.
 
Gernot klingelte abends an meiner Tür, glückstrunken, nach einem Zeugen verlangend: der Alkohol rann wieder durch seine Adern, nun sei er wieder Mensch und ich müsse ihn begleiten und seine Menschwerdung feiern. Ich habe ihn stattdessen nach Hause begleitet, wo er sich ganz zufrieden auf sein Sofa legte und mit einigen Worten des Wohlbehagens einschlief.
Sein Aufwachen habe ich nicht miterlebt, es erfolgte sicherlich ohne Behagen.
 
 Einige Tage später hörte ich, Gernot sei ins Waldkrankenhaus eingeliefert worden, wo man offenbar ohne ein rechtes Konzept gegen seine Entzugserscheinungen ankämpfte. Ich besuchte ihn, wir gingen im Wald spazieren, und ich fand ihn einsilbig und ohne die ihm so wichtige Verbindung zum Leben und zum Glück. Doch sah er schon voraus, was mit ihm geschehen würde. Man würde ihn in eine so genannte Fachklinik für Suchtkranke bringen und dort würde man versuchen, ihn an ein Leben ohne Alkohol zu gewöhnen.
- Viele schaffen das, sagte er monoton, aber ob die dann noch sagen können, Sie sinds? Wo doch der Alkohol die Substanz ist, die bei der Erschaffung des Menschen vergessen worden ist. Glückliche Menschen wären andere Menschen, Sie würden weniger Unheil auf der Welt anrichten.
- Vielleicht, habe ich eingewandt, kann man das Glück auch anders erwerben. Oder eine andere Art von Glück.
Er sah mich an, als hätte ich sibyllinisch dunkle Verse gesprochen.
Auch in der Suchtklinik habe ich Gernot besucht. Er ist mir dort schon, ein paar Monate später, als ein Veränderter begegnet. Er habe gelernt, das erste Glas stehen zu lassen, erzählte er mir, und darauf allein komme es an. Und das sei auch gar nicht so schwer, wenn man etwas anderes habe. Und das andere war die Mission, andere Menschen ebenfalls dahin zu bringen, wo er schon war, ans trockene Ufer. Gernot redete nun nicht mehr von der Pflicht zum Glück, die er früher im Rausch oft verkündet hatte. Das Glück war jetzt ein Pflänzchen, das viel Geduld und Arbeit verlangte, und keine tropische Sukkulente, die es nur gut feucht haben mußte. Das Glück gedeiht nur, belehrte er mich, wenn ich täglich kämpfe und Anstrengungen vollbringe.
 
Jeder Tag beginnt bei Null und ist Mühe, Mühe, Mühe. Und abends zeichnen sich oft die ersten Umrisse eines neuen Seelenzustandes ab.
 
Etwa ein Jahr lang blieb Gernot in der Suchtklinik und betreute Neugekommene auf ihrem Entzug. Er begleitete sie, faßte sie zu Gesprächsgruppen zusammen, tauschte mit ihnen Erfahrungen aus.
Er wußte ja alles über den Kalvarienweg der Sucht, kannte die weißen Mäuse und das Brüllen nach dem erlösenden ersten Glas. Nie hatte ein Süchtiger das letzte Wort bei ihm, denn Gernot war einen Schritt weiter. Er hatte ein Lebenskonzept, und was er früher einmal bei Heidegger und Sartre über Existenz und Selbstwerdung gelesen hatte, spielte nun eine neue Rolle in seiner Lebenslehre. Die nach Rückfall sich Sehnenden spürten in ihm einen Erleuchteten, der den Durchblick hatte.
Viele Freundschaften aus der Alkoholzeit verdorrten nun, auch ich gehörte zu denen, von denen er sich unmerklich innerlich verabschiedete. Mir war nichts zu vermitteln, da ich Bier trinken konnte und nichts mit mir geschah, außer daß ich ein wenig redselig wurde. Offenbar gehörte ich einer Spezies an, denen die wahren Wege des Glücks gar nicht zugänglich zu machen waren. Fußgänger des Glücks nannte er uns.
 
Wir trafen uns noch ein oder zweimal zum Kaffee, aber die Mitteilungen zwischen uns versiegten schnell.
Dann hörte ich, daß Gernot die Klinik verlassen habe. Zusammen mit einer Frau, bei der er jetzt lebe. Der Alkohol hatte sein Leben verlassen, dafür hatte Sexus Einzug gehalten.
Gernot, der früher nur sporadisch bei Prostituierten und meist alkoholisiert der Lust gefrönt hatte, hatte seinen Widerstand gegen regelmäßige sexuelle Kontakte aufgegeben und führte ein eheähnliches Leben. Die Frau, eine Entzugspatientin wie er, hatte nicht seinen Bildungsstand. Aber Gernot hatte dem akademischen Treiben, dem er zuvor noch mit einer Art Vagabundentreue anhing (seine Bude war voll gestapelt gewesen mit Büchern, ewig hatte Gernot an zwei geheimen Promotionen, einer in Slawistik und einer in Philosophie, Material sammelnd gearbeitet), völlig Ade gesagt. In Renates Wohnung zog er fast ohne eigene Bücher ein, das Gros war zum Antiquar gebracht worden. Noch ein radikaler Abschied, von der Welt der Ideen und Welterklärungen.
 
Gernot nahm eine Stelle als Pförtner an, nebenbei züchtete er mit Renate zusammen biologisches Gemüse, das er verkaufte. So lebten sie im Siegerland ein nahezu einfaches Leben, in das nur Renates Tochter, eine Zwanzigjährige, gelegentlich Komplikationen herein trug. Sie wurde aber, wie ich erfuhr, von Gernot nach und nach vergrault.
 
Gernot machte den Führerschein, und nach einem weiteren Jahr hörte man, daß er bei einer Speditionsfirma Lastwagenfahrer geworden sei. Ich erinnerte mich, daß er auch früher schon recht robust gewirkt hatte, im Körperbau fand sich etwas Gedrungenes. Aber man hatte es damals, als er noch Limericks und serbokroatische Gedichte aus dem Stegreif auf Bierdeckel niederschrieb, nicht so beachtet. Ich erinnerte mich auch, daß er erzählt hatte, vorübergehend auf dem Bau gearbeitet zu haben.
 
Und das herrliche Lachen, mit dem er all seine Suaden abschloß, wo war es geblieben?
Ein Bekannter, der mit ihm viel Schach gespielt hatte (auch davon wollte Gernot nichts mehr wissen), und der ihn gelegentlich traf, berichtete, Gernot lache nicht mehr wie früher.
Nicht mehr über Formulierungen, nicht mehr über das Widersprüchliche in der menschlichen Natur. Der Schachspieler meinte, eigentlich sei Gernots Humor verschwunden. Aber wohin geht der Humor, wenn er verschwindet? Läßt er sich vertreiben?
Verdrängen?
Umformen?
Ist er ausgestorben wie die Mücke bei der Trockenlegung der pontischen Sümpfe?
Gar vertrocknet?
Zur Zeit fährt Gernot flüssigen Beton, der während der Fahrt in der Trommel rotiert. Hoffentlich muß er nie Bierfahrer werden. Aber vielleicht würde es ihn nicht mehr stören. Denn er ist jetzt zwölf Jahre trocken.
 
 
 
© Horst Wolf Müller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker