Hitzeglocke

Donna Leon - "Auf Treu und Glauben"

von Frank Becker
Das Böse ist immer und überall *

So wörtlich hautnah, wie Donna Leon sie in ihrem neuen, dem 19. Fall des Commissario Brunetti
(es ist wie stets natürlich mehr als nur ein Fall) beschreibt, so unangenehm klebrig und heiß habe ich die Sommerhitze Venedigs zwar schon gefühlt, aber an anderer Stelle noch nicht beschrieben gesehen. Da klebt einem beim Lesen die Kleidung schier am Körper. "Auf Treu und Glauben" spielt im August, als die aus der Serenissima in kühlere Gefilde fliehen, die es sich leisten können. (Wir erinnern uns noch an die ebenso dichte Beschreibung des venezianischen Winter in "Schöner Schein".) Auch Inspektor Lorenzo Vianello und sein Freund und Vorgesetzter Guido Brunetti nehmen Urlaub, um mit ihren Familien der Glut zu entgehen. Aufregende Fälle gibt es wegen der Hitze nicht, denn selbst die Ganoven müssen aussetzen - die übrigen Akten können warten. Auch der Verdacht, den der Verwaltungsbeamte Brusca gegen die möglicherweise bestechliche Richterin Coltellini hegt und die inoffiziell begonnene Recherche gegen den Betrüger Gorini, dem Vianellos Tante Anita auf den Leim zu gehen scheint.

Doch die Ruhe unter der Hitzglocke Venedigs trügt. Ein Mordfall, den sie keinesfalls Leutnant Scarpa und seinem Adlatus Alvise überlassen möchten, ruft Brunetti und Vianello zurück in die Lagunenstadt. Donna Leon hat es erneut verstanden, den Alltag ihrer Ermittler fließend mit ihrer Arbeit in der Questura zu verweben, das Lebensgefühl ihrer Protagonisten dem täglichen Ringen mit einem von gewissen "Rücksichten" bestimmten Verwaltungsapparat - man könnte auch den Begriff Korruption benutzen - gegenüberzustellen. Der Justizangestellte Fontana ist im Hof seines Wohnhauses brutal erschlagen worden. Daß eine Löwen-Statuette als Tatwerkzeug benutzt wurde, ist ein Leon- typischer kleiner Seitenhieb. Brunetti und Vianello fällt auf, daß Fontana, der mit seiner Mutter zusammenlebt, nur eine lächerliche Miete für die herrschaftliche Wohnung gezahlt hat. Auch hier Bestechung und vielleicht ein Motiv? Als klar wird, daß das Opfer homosexuell war, tut sich eine weitere Ermittlungsebene auf. Und was weiß Signora Fulgoni - "Mein Mann ist Bankdirektor!" -  über die Verhältnisse im Haus?

Wie immer bei Donna Leon wird ein tiefes Mißtrauen gegen Staat, Verwaltung, Politik und Geld deutlich, das sich wie ein roter Faden durch ihre Romane spinnt. Ebenso klar zieht Leon die Genzen zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Das tut dem Leser gut, der sich gerne an die positiven Charaktere "seiner" Ermittler hält und mit gleicher Freude das schließliche Unterliegen der Gegner, Neider und Täter registriert. Donna Leon hat es aber auch eingerichtet, ihre Leser daran zu gewöhnen, daß Gerechtigkeit, zumindest im italienischen Rechtssystem, nur als relative Größe zu betrachten ist. Auch weiterhin läßt sie ihre Figuren sich entwickeln: die Freundschaft zwischen Brunetti und Vianello ist noch gefestigter, das Verständnis zwischen beiden ideal. Die kompetente und schöne Kommissarin Claudia Griffoni bekommt (leider) auch diesmal nur eine kleinere Rolle zugewiesen, ebenso wie der patente Polizist Pucetti, dem immerhin eine nicht minder pfiffige und bildhübsche Kollegin zur Seite gestellt wird: Bettina Trevisoi. Von den drei letztgenannten möchte man schon der Abwechslung halber gerne mehr Aktion sehen. 

"Auf Treu und Glauben" liest sich wie gewohnt flüssig und durch geschickte Wendungen und Parallelhandlungen mit einem stetigen Spannungspegel. Doch wenn ich dann bei meiner Krimi-Lektüre wieder einmal feststellen muß, daß der Kommissar in seiner Freizeit eben keine Krimis, sondern Tacitus liest, komme ich mir ganz klein vor. Ich muß zugeben: Lamprecht, Otfrid von Weißenburg, Reinmar der Alte, Walther von der Vogelweide oder Heinrich von Morungen liegen nicht auf meinem Nachttisch. Aber Donna Leon.

* Danke, EAV!
Beispielbild

Donna Leon
Auf Treu und Glauben

Roman

© 2011 Diogenes Verlag

316 Seiten, Leinen m. SchU
ISBN-10: 3257067763
22,90 €

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