Das Spiel seines Lebens

„Der gelbe Vogel“ am Kinder- und Jugendtheater Wuppertal

von Martin Hagemeyer
Das Spiel seines Lebens
„Der gelbe Vogel“ am
Kinder- und Jugendtheater Wuppertal
 
Geheime Freunde. Der gelbe Vogel
Von Rudolf  Herfurtner nach einem Roman von Myron Levoy
 
Inszenierung: Lars Emrich – Ausstattung: Laurentiu Tuturuga – Regieassistenz: Hannah Lueg, Charlott Hoebel – Puppentraining: Eva Grützenbach - Fotos: Karola Brüggemann
Besetzung: Alan Silverman: Clemens Redeker – Naomi Kirschbaum: Lea Graf – Shaun Kelly: Jos Freudenthaler – Joe Condello: Lukas Busmann – Sol Silverman: Tobias Uhl – Ruth Silverman: Claudia Wunder
 
 
„Ich bin das Lampenmonster. Glühbirnen sind meine Leibspeise. Mjam mjam. Sehr lecker.“ Kein Psychologieratgeber hätte dem Jungen Alan vermutlich diese Worte empfohlen, um die verstörte Naomi zu beruhigen, als beim Fliegeralarm das Licht ausgeht. Aber Alan hat seine eigene Art, sich Naomi zu nähern. Und „Geheime Freunde. Der gelbe Vogel“, das neue Stück des Wuppertaler Kinder- und Jugendtheaters, ist seine Geschichte.


Clemens Redeker, Jos Freudenthaler (v.l.) - Foto © Karola Brüggemann
 
Einen bei aller Traurigkeit wunderbaren Text hat Lars Emrich sich für die Produktion zum Jubiläum des Theaters (schon 40 Jahre wird es alt in diesem Jahr) ausgesucht . Der preisgekrönte Autor Myron Levoy widmet sich in seinen Romanen jungen Menschen bei ihrer Selbstfindung; und „sich widmen“ heißt bei ihm tatsächlich das, was jedes Jugendbuch verspricht, aber nicht jedes einlöst: sie ernst nehmen. So tritt dem Leser und dem Zuschauer mit Alan Silverman (auf der Bühne: Clemens Redeker) ein echter Charakter entgegen, dessen Konflikt im New York des Zweiten Weltkriegs nur zu gut nachvollziehbar ist: Zu seinem Schrecken bitten ihn seine Eltern (Claudia Wunder und Tobias Uhl), Zeit mit dem französischen Flüchtlingsmädchen Naomi (Lea Graf) zu verbringen, das schwer traumatisiert ist – die Nazis haben ihren Vater, einen jüdischen Widerstandskämpfer, vor ihren Augen erschlagen. Alan, dessen Stand bei den gleichaltrigen Jungen wie dem aggressiven Joe (Lukas Busmann) ohnedies nicht unangefochten ist, läßt sich widerwillig darauf ein und riskiert damit den offenen Bruch mit Shaun (Jos Freudenthaler), seinem besten Freund.


Lukas Busmann, Jos Freudenthaler (v.l.) - Foto © Karola Brüggemann
 
Respekt vor der Leistung der Darsteller, die nicht viel älter sind als ihre Figuren. Es wäre ja ein Irrtum zu glauben, für einen Teenager sei es einfach, einen Teenager zu spielen. Und umso weniger bei solchen Rollen: Clemens Redeker muß mit Alan mehrere unterschiedliche Facetten abdecken. Beim Schlagballspielen ist er der agile Junge, der sich gegenüber seinen Freunden über den Sport definiert und von Triumphen bei Profi-Spielen träumt. Die lange Zeit stumm bleibende Naomi dagegen fordert sein Einfühlungsvermögen heraus, und er findet eine Strategie, mit ihr zu kommunizieren: Einfallsreich beschließt er, „Charly“, eine alte Handpuppe, für den mühevollen Dialog zwischenzuschalten, und versieht diesen spontan mit skurrilem Humor: „Silverman, benimm dich in Gegenwart einer Dame!“
Lea Graf, die am Kinder- und Jugendtheater schon die weibliche Hauptrolle im Stück „Pünktchen und Anton“ gespielt hat, hat als Naomi diesmal eine Gestalt darzustellen, die auf deprimierende Weise passiv ist. In sich gekehrt und wie gleichgültig kauert sie am Boden und zerreißt mechanisch Papierstücke – in quälender Erinnerung an ihren Vater, der sie anflehte, kompromittierende Stadtpläne zu zerreißen und dem sie doch nicht helfen konnte. Schritt für Schritt öffnet sie sich Alan; zunächst indem sie auf seiner Charly-Ebene einsteigt und eine eigene Puppe für sich sprechen läßt. Wenn sie schließlich wie verwandelt als vitales junges Mädchen auftritt und sogar für einen Ausflug mit Alan den Picknickkorb zusammenstellt, rührt der sichtbare Fortschritt den Zuschauer ungemein an – gerade weil man ahnt, wie fragil er ist.


Lea Graf, Clemens Redeker (v.l.) - Foto © Karola Brüggemann

Auch die weiteren Akteure haben viel zu tun: Jos Freudenthaler gibt packend den ungestümen, aber eigentlich herzensguten Shaun; als er erfährt, daß Alan ihm nicht zugetraut hat, Verständnis für Alans Engagement um Naomi zu haben, stößt Shaun den vielleicht schlimmsten Satz des Abends aus, der nämlich ganz untypisch für ihn ist und nur Ausdruck seiner tiefen Verletztheit: „Bleib mir vom Leib, du Weichei.“ Lukas Busmann spielt erschreckend gefährlich den judenfeindlichen Hausmeistersohn Joe und steht damit für die latent immer vorhandene Bedrohung, unter der Alan und Naomi durch die Kriegführung der Deutschen leben. Und Tobias Uhl und Claudia Wunder sind sympathische Eltern, die ihren Sohn Alan mit der Hilfe für Naomi nicht überfordern wollen, ihm aber doch einiges zumuten – und übrigens nicht souveräner sind als er.
 
Denn wie gesagt ist Alan die Hauptfigur in Lars Emrichs Inszenierung von „Geheime Freunde“: Seine Perspektive ist es, in die der Zuschauer versetzt wird, und die Erfolge bei Naomi sind ganz die seinen; seine Selbstbehauptung als Sohn ist eine weitere seiner Facetten. Daneben gelingen Emrich gute Bühnenmittel, um Naomis allmählich wachsende Sicherheit erlebbar zu machen: Im bekannt abstrakten und daher variablen Bühnenbild von Laurentiu Tuturuga platziert er das Mädchen zunächst wie entrückt auf erhöhter Spielebene, läßt sie dann zögernd heruntersteigen und schließlich bei den ersten Schritten nach „draußen“ sogar den Zuschauerraum betreten. Hätte auch etwas weniger von der fast durchgängigen Musik (meist Zeitgenössisches wie Glenn Miller oder Nat King Cole) und den historischen Filmaufnahmen nicht geschadet und ist die Führung der Eltern doch manchmal etwas sentenzenhaft und betulich geraten: „Der gelbe Vogel“ fasziniert insgesamt mit berührenden menschlichen Konflikten und mit dem Erleben eines Jungen, der über sich selbst hinauswächst – und das auf seine, durchaus eigenwillige Weise: Als er gerade die ersten positiven Signale von dem wortlosen Mädchen errungen hat, sagt Alan achselzuckend zu „Charly“, seinem „Mitstreiter“: „Du weißt, was das jetzt bedeutet. Wir haben sie am Hals.“ Und Charly antwortet altklug: „Ich habe dich gewarnt.“
 
Redaktion: Frank Becker