Elend ohne Disput

David Bösch ordnet in Bochum Hauptmanns „Ratten“ neu

von Martin Hagemeyer
Elend ohne Disput
 
Die Ratten.
Tragikomödie von Gerhart Hauptmann.
 
David Bösch ordnet in Bochum Hauptmanns „Ratten“ neu
 
Regie: David Bösch – Bühne: Patrick Bannwart – Kostüme: Meentje Nielsen – Dramaturgie: Sabine Reich – Regieassistenz: Barbara Hauck.
Besetzung: Harro Hassenreuter: Manfred Böll – Walburga, seine Tochter: Xenia Snagowski – Erich Spitta: Matthias Eberle – Alice Rütterbusch, Schauspielerin: Bettina Engelhardt – Herr John: Jürgen Hartmann – Frau John: Katharina Linder – Bruno Mechelke, ihr Bruder: Daniel Stock – Pauline Piperkarcka, Dienstmädchen: Maja Beckmann – Frau Sidonie Knobbe: Anke Zillich – Selma, ihre Tochter: Kristina-Maria Peters – Quaquaro, Hausmeister: Raiko Küster.
 
 
Am Rand des düsteren Dachbodens hockt im Gerümpel der junge Mann; das Mädchen kauert sich in seinen Arm, und da beruhigt er sie mit einem Märchen vom sprechenden Bären. Bei Gerhart Hauptmann gibt es diese Szene nicht; David Bösch hat sie hinzuerfunden für seine Inszenierung von Hauptmanns Stück „Die Ratten“. Es ist dies wohl die eigenständigste Änderung, die der Bochumer Hausregisseur, für beherzte Texteingriffe bekannt, an dem Werk vornimmt – und: eine sehr schöne. Ohne einen solchen Moment des Friedens zwischen zwei in der Vorlage unbedeutenden Nebenfiguren (Hausmeister Quaquaro und Nachbarstochter Selma) wäre es an diesem Abend wahrscheinlich zu viel des Trostlosen.
 
Das hat damit zu tun, daß der Dichter mit seinem 1911 uraufgeführten Schauspiel eine Grundsatzfrage gestalten wollte: In einer Berliner Mietskaserne führt der abgehalfterte Theaterdirektor Hassenreuter mit seinem Schwiegersohn in spe, Spitta, einen theoretischen Disput darüber, ob der sogenannte „vierte Stand“ tragödientauglich ist. Daß sich im selben Haus um die Reinmachefrau John gleich vor ihren Augen Tragisches abspielt, merken sie erst ganz am Ende. Diese Ignoranz vor allem war es wohl, was seinerzeit die komischen Effekte hervorrief und „Die Ratten“ zur Tragikomödie machte. Die Ständefrage scheint heute geklärt, und so spielt in den Bochumer Kammerspielen denn auch die Hassenreuter-Handlung keine große Rolle mehr – samt der mit ihr verbundenen Komik. Es bleibt: Elend.
 
„Wenn ich mir was wünschen dürfte“: Diese wiederholt eingespielte Liedzeile, ihre Sehnsucht ist nun das Thema der „Ratten“; aber verträumt zu sein, ist an diesem Ort fern von Licht und Liebe, dem verwaisten Kostümfundus, keiner in der Lage. Frau John gibt in ihrem verzweifelten Kinderwunsch ein fremdes Baby als ihr eigenes aus und trägt im Bemühen, das zu vertuschen, schließlich Schuld daran, daß ihr krimineller Bruder Bruno die wahre Mutter ermordet – von allen verlassen bringt sie sich um. Katharina Linder meistert es, die Hauptfigur von Anfang an gehetzt und zutiefst unsicher wirken zu lassen. „Ick ha et dir doch in Briefe jeschrieben, det unser Jungeken hier in de Wohnung jeboren is“: Ihre ungeschickten Verstellungsversuche, hier vor ihrem brutal-„rechtschaffenen“ Mann (Jürgen Hartmann), werden dadurch quälend fühlbar. Ansonsten gehört alle Aufmerksamkeit aber Maja Beckmann: als Pauline Piperkarcka, das polnische Dienstmädchen, das ihr Kind erst töten will, dann an Frau John verkauft und es dann – ein tödlich endendes Ansinnen – zurück will. Wie sie wild vor sich hinstarrt, mit täuschendem Akzent schimpft und flucht, Härte ausstrahlt und zugleich Verletzlichkeit: Das ist beeindruckend.
 
Als verlorene Seele spielt auch Daniel Stock den Mörder Bruno: Nach der Tat tänzelt er noch einmal wie vergnügt im Kreis herum; wie schon vor Jahren, als er sich als Clown bei einem Wanderzirkus verdingte.  Andere Charaktere streicht die Regie oder legt sie umgekehrt neu an. Hassenreuter (Manfred Böll) wiederum ist in Bochum nur ein eitler Geck, seine Tochter Walburga (Xenia Snagowski) und ihr Geliebter Spitta (Matthias Eberle) ergehen sich in albernen Suizidfantasien und lassen im Kontrast die reale Todesnähe der anderen Figuren nur noch stärker hervortreten. So sorgt David Bösch dafür, daß der Fokus ganz auf der John-Ebene liegt. Aber unverzichtbar sind angesichts manch starken Tobaks an diesem Abend (das tote Dienstmädchen wird kopfüber in die Mülltonne gestopft) auch die raren Momente, die anrühren, wie der eingangs beschriebene. Erst damit werden diese „Ratten“ so recht traurig – statt nur schrecklich.