Das große Grauen aus der Tiefe

Eine Parabel

von Dorothea Renckhoff
Das große Grauen aus der Tiefe
 
So lange sie denken konnten, hatten die Menschen in diesem Teil des Gebirges geahnt, daß unter dem schwarzen Spiegel des Sees eine Drohung lebte. Niemals ließen sie die Kinder am Ufer spielen, als fürchteten sie, es könnte mit einem Mal eine Welle aufstehen und hochragend über den seichten Randstreifen gerast kommen, um sich als fallende Wand über die Kleinen zu werfen und sie mit sich zu reißen, zurück in die Tiefe.
 
Wie tief dieser See war, wußte niemand, aber die Fischer berichteten von einer kalten Flut, die von ganz unten heraufdringe, und einige erzählten von einem versteinerten Wald am Grunde, sie wollten das reibende Knirschen seiner Äste gehört haben, wenn sie ihre Netze einholten, doch gesehen hatte ihn niemand, denn das dunkle Wasser ließ keinen Blick ins Unergründliche zu.
Selbst an hellen Sommertagen, wenn ein leichter Wind das Wasser kräuselte und die Sonnenstrahlen in den kleinen Wellen glitzerten, blieb die Oberfläche undurchdringlich und blendete die Augen mit Glanz und Schillern, und was darunter lag oder lebte, verharrte im Unsichtbaren.
Aber im Winter, wenn eine feste Eisschicht einlud, die steilen und beschwerlichen Wege an den Berghängen im raschen Dahingleiten direkt von Ufer zu Ufer abzukürzen und Mancher sich auf Schlitten und Kufen hinauswagte, dann zeigten sich immer wieder rätselhafte Löcher in der sonst meterdicken Decke, es hieß, etwas wie ein langer Arm oder schleimige Gliedmaßen gleite zuweilen daraus hervor und taste lautlos um die Öffnung herum.
 
Man sprach nur selten und dann flüsternd von diesen Dingen, denn es lebte sich gut von den fetten Fischen aus dem unbekannten Wasser, und das nahe Bergwerk barg noch ungeahnte Reichtümer. Tag und Nacht brannten die Feuer unter den riesigen Pfannen, in denen sie die trübe Brühe aus den Stollen zu einem schmutziggrauen Pulver einkochten. Es war eine Kostbarkeit. Es war Salz.
Doch nach und nach verschlangen diese Flammen die umliegenden Wälder, und schon hatte man begonnen, auch die Bäume an den steilen Hängen über dem Dorf abzuholzen. In dieser Zeit schmolz der Schnee auf den Bergen, als hätte der Atem der ewigen Feuer ihn angehaucht, darunter drängte der Fels ans Licht, und oft hörte man ein Dröhnen wie vom Schritt eines Riesen, der über die Berge ging, und der Stein zerbröselte unter seinem Fuß.
Doch auch hiervon wurde nur im Geheimen und flüsternd gesprochen, keiner warnte, und die Flammen leckten weiter, riesige Opferfeuer für weißes Gold.
Bis das Dorf eines Nachts geweckt wurde von einem donnernden Brüllen, ganz nah, als sollte das ganze Tal verschlungen werden, und sie wußten, daß im Schutz der Dunkelheit das gewaltige Ungeheuer aus dem See gekrochen war, das Generationen gefürchtet hatten, ohne es einzugestehen. Dann kam ein Krachen und Knistern, als knickte ein Riese sich Anmachholz zurecht, und dann noch ein Poltern, und dann Stille.
Aber am Morgen sahen sie, daß das Ungeheuer nicht das ganze Dorf verschlungen hatte, sondern nur jene Häuser, über denen der Hang abgeholzt war; ein unvorstellbar großes Wesen, mußte es aus der Tiefe aufgetaucht sein, platt auf seinem tonnenförmigen Leib über den Boden kriechend, und hatte alles verschluckt und gefressen, was auf seinem Weg den Hang hinauf lag, Häuser, ein paar Ställe, Scheunen, Menschen und Tiere, Gras und Gemüsegärten und die letzten Bäume am Berg, und oben angelangt hatte es haltgemacht und sich umgesehen, um dann wieder abwärts zu gleiten, mit seinem schleimigen Körper, und sein schuppiger Schwanz hatte dabei nach rechts und links geschlagen und zerknickt und zertrümmert, was dort wuchs und stand, zu beiden Seiten der breiten schlammigen Spur, in der es sich seinen Weg wieder hinabgeschleppt hatte, zurück in die düstere Tiefe des Sees, aus der es gekommen war. Auf dieser Spur fand sich nichts mehr als die Steine und Felsbrocken, die es zornig brüllend wieder ausgespieen hatte.
Keiner, der in den zerstörten Häusern gelebt hatte, wurde je wieder gesehen, nur hie und da fand sich ein erdverkrusteter Stoffetzen von einem Kleid oder einer Schürze, oder ein Stück von einem Finger, und dann eine einzige große alte Geige, fast unversehrt, begraben unter einer Pyramide aus bunten Kieseln.
 
Bald wurde von einem Zauber im Körper der Geige, von Waldwesen und Baumgeistern gesprochen, die das Ungeheuer in den See gebannt gehalten, bis man am Berghang den Wald gefällt und die magische Kette dadurch zerrissen habe.
Seitdem schlug man kein Holz mehr um den See, die Bäume wurden alt und stürzten um, wo sie standen, und bildeten modernde Stege ins schwarze Wasser. Der Weg am Ufer verfiel, weil niemand mehr dort zu gehen wagte, und ein giftig grünes Moos wucherte in der Spur, die das Ungeheuer zurückgelassen hatte.
Aber die Feuer brannten weiter; man holte das Holz jetzt von weither, und irgendwann stieg man zu den sumpfigen Wiesen auf den Hochebenen hinauf und begann, Torf zu stechen, um das Brennen unter den Blechen am Leben zu halten.
Doch auch das Ungeheuer in der Tiefe des Sees lebte weiter, und aus schwarzen Quellen sickerte die Angst ins Dorf, zwischen ihm und den Feuern könnte eine geheime Verbindung bestehen, und jeder Ballen Torf, jedes Holzscheit, die von den Flammen verzehrt wurden, könnte gleichzeitig das Wesen unter dem Wasserspiegel mästen und zu immer mächtigerem Wachstum heranfüttern, bis es eines Nachts zum zweiten Mal aus seiner Höhle käme, und dieses Mal würde Keiner im Tal verschont bleiben. Aber sie wußten keinen Ausweg, und kein Mensch sprach es aus.
 


© 2011 Dorothea Renckhoff