Das Wichtigste zuletzt

Gedankensenke

von Andreas Steffens

Totenmaske von Ferdinand
Lassalle - unbekannter
Fotograf

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch

Das Wichtigste zuletzt


Leider betrachten wir unsere Toten nie genug.
Paul Léautaud, „In Memoriam“

Das letzte Gesicht ist keines mehr. Und zeigt doch, wonach jeder Blick ins Gesicht eines Menschen sucht.

Die Erstarrung des Totenantlitzes, aus dem die Bewegtheit des Lebens gewichen ist, schockiert nicht nur durch die Endgültigkeit des nicht mehr Veränderbaren. Sie schockiert vor allem durch die Verzerrung des Bekannten, gar Geliebten, in die Unkenntlichkeit einer unglaubwürdigen Gewißheit. Er ist es, und ist es nicht.

Das ist der Mensch, den wir kannten. Aber da er Mensch nun nicht mehr ist, der Blick in sein Gesicht nicht mehr erwidert wird, ist es, so bestimmt es doch sein Körper ist, nicht mehr seines, als das es uns bis hierher durchs Leben begleitete.

Dieses Gesicht, mit dem er sich, so lange erwartet und dann doch unverhofft, in die Ewigkeit davonmachte, hat er im Leben nie gezeigt. Und doch ist es unverkennbar seines.

Leben kann den Tod nicht zeigen, nicht einmal darstellen, daran muß auch der genialste Schauspieler scheitern. Der Tod aber kann zeigen, was ein Leben war.

In der Starre der Verzerrung ist dieses fremdeste Gesicht so sehr seines, daß es nun in einem einzigen, alles zusammenfassenden Ausdruck sein gesamtes Leben zeigt, dessen Weichen aus seiner Körperhülle die Verfremdung des letzten Gesichts zu diesem einzigen Bild des Ganzen formte.

An dieser Bildung, die sich als Letztes an einem vollzieht, ist man nicht mehr beteiligt, sie ist reines Geschehen. Es geht einen nichts mehr an, nur die, die zurückbleiben. Aber in dieser Abgelöstheit gerade will es scheinen, als sei dieser Ausdruck eines Lebens, den sein Verlöschen in das letzte Gesicht eines Menschen prägt, das Bedeutendste dieses Lebens, sein geheimes Ziel, auf das alles in ihm ausgerichtet ist. Als wäre alles dazu bestimmt, dieses Letzte zu ermöglichen.

Dann käme alles im Leben darauf an, Sorge dafür zu tragen, was unser letztes Gesicht sehen lassen wird, unkorrigierbar - : Lebe so, daß du das Bild deines Lebens, das dein letztes Gesicht zeigen wird, als deines beglaubigen könntest: Ja, das bin ich gewesen.

All unser Mienenspiel, alles Grimassieren, jeder Lidschlag, jedes Mundwinkelzucken und jedes lächelnde Fältchenkräuseln um die Augen - erprobende Vorübung zu jenem letzten Ausdruck in dem Gesicht, das wir der Welt als unser endgültiges zeigen werden.

Wenn sie hinschaut.

Da es immer mehr gibt, die betrachtet sein wollen, um der wichtigsten aller Erkenntnisse teilhaftig zu werden, zu erfahren, wer einer war, werden immer weniger und immer kürzer hinsehen.

Bis die letzten Toten gesichtslos sein werden.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007