Kein Ausweg, nirgends

„Lulu“. Eine Monstretragödie von Frank Wedekind

von Daniel Diekhans

Foto © Frank Becker
Kein Ausweg, nirgends

„Lulu“.
Eine Monstretragödie von Frank Wedekind
 
Sybille Fabian bringt Wedekinds „Lulu“
als expressionistischen Totentanz auf die Bühne
 
Inszenierung: Sybille Fabian - Bühne: Herbert Neubecker - Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch - Fotos: Joachim Dette
Besetzung: Lulu (Juliane Pempelfort) – Dr. Franz Schön (Michael Schmitter) – Alwa Schön (Gregor Henze) – Schigolch/ Dr. Goll (Georg Marin) – Eduard Schwarz (Thomas Braus) – Gräfin Geschwitz/ Prinz Escerny (Julia Wolff) – Casti-Piani (Anne-Catherine Studer) – Tierbändiger/ Rodrigo/ Jack (Marco Wohlwend)
 
Lulu ist außer sich 

Lulu ist außer sich. Nach dem Mord an ihrem Ehemann Dr. Schön und der Flucht aus dem Gefängnis ist sie in die Fänge des Menschenhändlers Casti-Piani geraten. Sie ist ihm schutzlos ausgeliefert: Entweder schiebt er sie ins Bordell ab – oder er verrät sie an die Polizei. Selbst als Lulu den Aufstand gegen die Männerwelt probt - mit den Worten der Ophelia aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ - bringt dies keine Befreiung. Denn auch am Ende der Revolte steht der Tod: „Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.“


Thomas Braus, Juliane Pempelfort - Foto  Joachim Dette
 
Der Tod und das Mädchen
 
Schräge Bühnenbilder, grell geschminkte Gesichter, verzerrte Gesten – Regisseurin Sybille Fabian hat eine Schwäche für den expressionistischen Film. In der letzten Spielzeit brachte sie Kafkas „Prozeß“ in Schwarz-weiß auf die Bühne des Wuppertaler Opernhauses. Nun präsentiert sie Wedekinds „Lulu“ im Stummfilm-Look. Als sich bei der Premiere im Remscheider Teo Otto Theater der Vorhang hob, war dies der Auftakt zu einem sorgfältig choreographierten Totentanz, der sich in immer höherem Tempo um die Titelfigur dreht. Juliane Pempelfort gibt die Lulu als Meisterin der Verkleidung. Je nach Geschmack des Liebhabers, der sie umgarnt, ist sie die Garçonne im Anzug, der Pierrot im Tüllkleid oder die Hure im Spitzendessous. Doch wer hinter all diesen Kostümen ein unschuldiges Opfer vermutet, täuscht sich. Pempelforts rosiger Teint und ihr kindlich-harmloses Gesicht sind eine besonders subtile Maskerade. Wenn sie die Totenkopfmaske aufsetzt und über die Bühne stolziert, entpuppt sich Lulu als todbringender „Würgeengel“, dessen Sexualität keine moralischen Grenzen kennt. Ist dies ihr wahres Gesicht? Oder doch wieder nur eine Facette ihres schillernden Charakters? Regisseurin Fabian läßt diese Fragen offen. In aller Deutlichkeit zeigt sie jedoch, daß der fast überirdischen Figur Lulu niemand anders als der Tod gewachsen ist. In Wedekinds Vorlage setzt er ihrem Leben in der Gestalt des Serienmörders Jack the Ripper ein blutiges Ende. In Fabians Version ist der Tod omnipräsent. Marco Wohlwend spielt ihn mit großer Verve und Intensität als irrsinnigen Gigolo, der immer wieder Lulus Wege kreuzt. Wenn er sie zum Tanz fordert, kann sie sich ihm nicht entziehen. Mehr noch: Bevor sich der Vorhang hebt, entwickelt Wohlwend in einem unheimlichen Ritual aus kindlichem Geplapper ihren Namen: „Oh Lu-lu-lu-lu!“ Bereits hier werden Lulus spätere Fluchtgedanken („Ich will doch nur ins Freie!“) und ihre Revolte ad absurdum geführt. Von Beginn an ist sie einem grausamen Tod verfallen. Es gibt keinen Ausweg, nirgends.


Michael Schmitter, Georg Marin, Gregor Henze (v.l.), hinten: Thomas Braus - Foto  Joachim Dette
 
Gefährliche Clowns
 
Der Welt, der Lulu nicht entrinnen kann, haben Männer unauslöschlich ihren Stempel aufgedrückt. Jeder Zärtlichkeit und Sentimentalität entkleidet, verroht die Liebe zur reinen Triebbefriedigung. Die Grenzen zwischen Sex und Gewalt verschwimmen. Wenn freilich eine Frau sich dieser Liebe hemmungslos hingibt, ist sie nicht mehr gesellschaftsfähig. Juliane Pempelfort verleiht Lulu in ihrem unausweichlichen Scheitern tragische Größe. In der Schlußszene, als sie nackt und blutig geschunden ihre Arme weit von sich streckt, wird sie gar zur christusgleichen Schmerzensfrau. Dagegen erscheinen ihre Liebhaber als ebenso bösartige wie lächerliche Clowns. Thomas Braus als Maler Schwarz wandelt sich unter Lulus starker Hand vom aggressiven Macho zum kleinlauten Masochisten. Georg Marin mimt den pedantischen Spießer Goll ebenso glaubwürdig wie Lulus sadistischen Ziehvater Schigolch. Gregor Henze verkörpert Alwa Schön als erschreckend eitlen Möchtegernkünstler. Michael Schmitter ist Alwas Vater, Dr. Schön. Anfangs gibt sich der vorgebliche Biedermann noch steif wie sein Gehrock, wähnt sich als Dompteur der Bestie Lulu. Tatsächlich aber verfällt selbst er ihren Verführungskünsten. Eine besondere Ironie ist, daß Regisseurin Fabian lustvoll die Geschlechtergrenzen überschreitet, an deren Verhärtung die Figur Lulu scheitert. So brilliert Julia Wolff in einer aristokratischen Doppelrolle als blasierter Escerny und als verzweifelt liebende Geschwitz. Und Anne-Catherine Studer darf den Mann spielen, den Lulu vollkommen kalt läßt. Als Casti-Piani schwingt sie im Hosenanzug frauenfeindliche Reden und reizt so erst Lulu zur (aussichtslosen) Revolte.
 
Eine Welt stürzt ein
 
Gutes Theater kann die Sehnsucht nach einem anderen Zustand der Welt wecken. Wenn bereits vor Lulus Ende ihre trostlose Welt untergeht, die Kulissen langsam in sich zusammensinken, wird dieser Sehnsucht Raum gegeben. Vielleicht ist diese Sehnsucht nach einer anderen Welt der Grund für den tosenden Applaus und die Bravorufe, mit der das Publikum die Remscheider Premiere der „Lulu“ feierte. Das Wuppertaler Publikum hat ab dem 13. Mai Gelegenheit, Sybille Fabians denkwürdige Inszenierung dort im Opernhaus zu erleben.


Julia Wolff, Juliane Pempelfort, Marco Wohlwend - Foto  Joachim Dette
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de

 Redaktion: Frank Becker