Auf dem Sessel ist immer Leo

Uraufführung des Stücks "203" von Juli Zeh am Düsseldorfer Schauspielhaus

von Andreas Rehnolt

Auf dem Sessel ist immer Leo
 
Die Uraufführung des Stücks "203" von Juli Zeh geriet am Düsseldorfer
Schauspielhaus
zu einer bitterbösen Abrechnung
mit Sicherheitsverwahrung, Menschenwürde und Überwachung
 
Wer bin ich. Und wenn ja, wie viele? Diese philosophische Frage scheint in der Uraufführungsinszenierung des Stücks "203" der Dramatikerin Juli Zeh am Karfreitag im Düsseldorfer Schauspielhaus während der vollen Zeit über der Bühne zu schweben. Dem Zuschauer fällt das Zählen der einzelnen Ichs der vier Protagonisten im Verlauf der 90-minütigen Aufführung in der Regie von Hans-Ulrich Becker zunehmend schwerer. Was da auf der an ein 1968er Wohnzimmer erinnernden Bühne passiert, paßt jedoch nicht ins Wohnzimmer-Gefühl. Großgemusterte Tapeten, mit Plastik überzogene Sessel und Sofa, ein selbstfahrender runder Staubsauger, ein gigantischer Hirschkopf, ein Stapel Boulevard-Blätter und eine stählerne Tür, die sich von innen nicht öffnen läßt.
 
Von der ersten Minute an hat man als Zuschauer ein beklemmendes Gefühl. Das mag auch an dem Beobachtungs-Video liegen, das oberhalb des Raumes die Situation auf der Bühne wie Big Brother 1:1 wiedergibt. Ein junger Mann liegt auf dem Sofa, eine Frau hockt im Sessel, ein älterer Mann ebenfalls und eine junge Frau sitzt auf einem Stuhl in der Ecke der Zimmer-Zelle. Alle reden zwar miteinander, aber nichts will so recht zueinander passen. Als der junge Mann (Thomas) wach wird, begrüßt ihn das Trio mit Gesang: "Willkommen, willkommen auf 203. Willkommen, willkommen, Du bist wieder frei. Willkommen bei uns, du bist wieder dabei." 
 
Thomas glaubt anfangs, er sei in eine Art "Verstehen Sie Spaß" gerutscht und hält alles für einen Gag. Doch die drei übrigen tun so, als ob sie ihn bereits lange kennen, die junge Frau (Betty) soll seine Frau sein, das Paar Leo und Christa wollen seine Schwiegereltern sein. Blackout, Gedächtnis-Lücke oder was? Als dann die Türe aufgeht und zwei Putzfrau-Krankenschwestern in "203" einfallen, fordert Thomas von ihnen eine Erklärung. Die kommt allerdings nur in Form eines Bolzen-Schusses, der ihn außer Gefecht setzt. Als er wieder erwacht, ist er angeblich nicht mehr der Mann, sondern "nur" noch der Bruder von Betty, die von ihrem Vater jahrelang in einem Kellerverlies eingesperrt worden sein soll.

Was geht da ab, in "203"? Ist Thomas nun Broker gewesen, war er Romanautor, ist er Ehemann? Und warum ist der Vater auf der Bühne die Frau Christa, warum die Frau der Mann Leo? Und was hat die Sitzordnung mit den jeweiligen Ichs in "203" zu tun? Beim zweiten Auftritt der Krankenschwestern-Wärterinnen wird's eklig. Die bringen Flüssignahrung für die Insassen, die denen mittels Schläuchen in den Schlund gepreßt wird. Zwangsernährung? Die kurzen Sätze der in Gummistiefeln agierenden "Schwestern" schaffen etwas Klarheit. Offensichtlich ist "203" eine Zelle in einer Gefangenen-Mastanstalt. Die Kosten für normalen Strafvollzug sind überbordend hoch, deshalb mästet man die Häftlinge, um sie bei Erreichen ihres Schlachtgewichts zu zerlegen und als Nahrungsmittel zu verkaufen.
 
Wenn die Zellentür sich öffnet, fällt gleißendes Licht hinein. Geräusche aus Nachbarzellen lassen erahnen, daß die dortigen Gefangenen weitaus "tierischer" vor sich hin leben, als die in "203". Keiner will raus. "Draußen ist Massentierhaltung", sagt Christa und ergänzt: "Freiheit gibt es nur noch zuhause." Und dann wird weiter an einer Legende der Insassen gestrickt, die man schon gar nicht mehr verstehen kann und will. Denn sie setzt sich aus Bruchstücken von Erinnerungen zusammen, aus Wünschen, aus Ängsten und aus Angelesenem und Angehörtem. Alles was an Information nach "203" dringt, wird von den Insassen für die jeweils eigene oder die pseudo-familiäre Geschichte eingebaut.
 
Und der Zuschauer versteht nach und nach, warum die völlig verrückten Geschichten und Erzählungen für das Quartett in "203" wichtig sind. Sie werden von der Fürsorge-Diktatur total überwacht, werden gefüttert, gesäubert und am Leben erhalten. Da die Wärterinnen mit ihnen nicht sprechen, ist es umso wichtiger, daß sie miteinander reden. So glauben sie zumindest, ein Stückchen Identität im Mast-Knast zu besitzen. Ob es stimmt, was sie sich da von- und übereinander erzählen, ist dabei völlig nebensächlich. Geschichten sind in "203" Überlebens-Mittel.
 
Auch, als Leo (Karin Pfammatter) zum Schlachten abgeholt und abgestempelt wird, weigern sich die übrigen drei, das in ihrer Gedankenwelt zu akzeptieren. "Viel Glück bei der Operation" ruft Christa (Pierre Siegenthaler) dem in Plastik eingewickelten Leo nach. Als Minuten später dann die Zellentür geöffnet und ein betäubtes junges Mädchen auf den nun freien Sessel gehievt wird, da steht für Thomas, Christa und Betty fest, daß es sich um Leo handelt. "Auf dem Sessel ist immer Leo", betont Christa. Und als der neue Leo dann wach wird, da singt das Trio wie zu Beginn des Stücks das "Willkommen, willkommen, Du bist wieder dabei".
 
Am Ende gibt es Applaus für die sämtlich hervorragend agierenden Schauspieler und für Regie und Bühne. Man verläßt als Zuschauer das Kleine Haus am Gustaf-Gründgens-Platz beklommen. Vor dem Theater kreisen die Gespräche dann auch rund um den Strafvollzug, die Sicherungsverwahrung, die Überwachungsapparatur des Staates und die fleischlose Ernährung. Wie man eben so spricht nach einem Stück der Dramaturgin Juli Zeh. 
 
Weitere Informationen unter: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
 
 Redaktion: Frank Becker