Wiens zweite Moderne
Glanzvolle Ausstellung „Dynamik!“
im Unteren Belvedere Geht es um die Wiener Moderne, so denkt man spontan an die Gründung der Secession 1897 und der Wiener Werkstätte 1903, an Otto Wagner, Joseph Maria Olbrich, Josef Hoffmann und Koloman Moser, an den geometrisch-konstruktiven Wiener Jugendstil, an Klimt, Schiele und Kokoschka. Spätestens 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Donaumonarchie sowie dem Tod von Klimt, Moser und Schiele im selben Jahr, hatte auch diese Wiener Moderne ihren Endpunkt erreicht.
Doch schon wenig später regte sich in Wien mit dem sog. Kinetismus eine zweite Moderne, die allerdings sehr bald in einen tiefen Dornröschenschlaf versank und über Jahrzehnte nur noch Insidern vertraut war. Nun ist es einer glanzvollen Ausstellung im Unteren Belvedere in Wien gelungen, diese zweite Wiener Moderne dem Vergessen zu entreißen und in den Kontext der europäischen Avantgarden der Zehner und Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu stellen.
Kinetismus – ein Futurismo Viennese?
Der Titel der Ausstellung – „Dynamik!“ – ist klug gewählt. Er bringt auf den Punkt, was zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend die alltägliche Lebenswelt zu bestimmen begann: das Tempo der modernen Maschine, der industriellen Produktion, der neuen Kommunikationsapparaturen, des Straßen-, Bahn- und Flugverkehrs. Zur Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen trat die Einsicht in die grundlegende existentielle Bedeutung von Bewegung und Rhythmus hinzu. Das alles fand auch in der bildenden Kunst seinen Niederschlag, so im Kubismus und mehr noch im
Das alles machte europaweit sehr schnell Schule. In Wien gelangte der Schweizer Maler Johannes Itten, der in der österreichischen Hauptstadt von 1916 und 1919 eine private Kunstschule betrieb, bevor er von Gropius als Leiter des legendären Vorkurses an das neu gegründete Bauhaus nach Weimar berufen wurde, zu Formlösungen, die jenen der Futuristen – zumindest äußerlich – durchaus nahestanden. In seiner eigenen künstlerischen Praxis wie in seinem Unterricht betonte er stets die herausragende Bedeutung von Bewegung und Rhythmus, und die allererste Eintragung in seinem Wiener Tagebuch des Jahres 1916 lautet: „Rhythmus. [...] Alles Lebendige, Seiende lebt, das heisst, ist in Bewegung.“
Wichtig zu wissen ist nun, daß einige seiner Privatschüler auch an der Wiener Kunstgewerbeschule in der Klasse für „Ornamentale Formenlehre“ des schon damals berühmten und weltweit anerkannten Reformpädagogen Franz Cizek lernten und ganz offensichtlich künstlerische Konzepte aus dem Itten-Unterricht in die Cizek-Klasse importierten. Und es ist bekannt, daß Cizek, der selbst weniger als avancierter Künstler, sondern eher als progressiver Lehrer hervorgetreten ist, 1918 die kubistisch inspirierten und zum Teil futuristisch anmutenden Arbeiten Ittens in einer Ausstellung in Wien gesehen hat. Jedenfalls entstanden ab 1919/20 – Itten lehrte inzwischen am Bauhaus in Weimar – im Unterricht Cizeks an der Kunstgewerbeschule Arbeiten, deren kubo-futuristischer Stil sicherlich von Johannes Ittens Schaffen mitangeregt worden sein dürfte.
Den künstlerisch erstaunlich qualitätvollen Werken des Wiener Kinetismus – meist Arbeiten der damaligen Schülerinnen und Schüler an der Wiener Kunstgewerbeschule – eignet kein kulturkritischer, ja kulturanarchistischer Habitus, wie er bei den italienischen Futuristen im Umkreis Marinettis anzutreffen ist, auch keine erkennbar politische Tendenz zunächst proto-faschistischer, dann unter Mussolini dezidiert faschistischer Observanz, wie dies in Italien zu beobachten ist. Eher erinnert ihr zuweilen dekorativer Charakter daran, daß sie ihre Entstehung der von Cizek geleiteten Ornamentklasse, die sich über die Jahr mehr und mehr zur „Kinetismus-Klasse“ entwickelte, verdanken. So entstanden neben „freien“ Rhythmus- und Ausdrucksstudien auch „angewandte“ Arbeiten wie Tapetenmuster, Schriftentwürfe, Architekturmodelle und ornamentale Reliefplastiken.
Erika Giovanna Klien als „Leitfigur“
In einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1921 mit dem Titel „Eine staatliche Schule für Expressionismus in Wien“ heißt es über die Cizek-Klasse: „Das Formale und das Handwerkliche wird hier nicht aus der Erscheinung, sondern aus dem inneren Erlebnis entwickelt, abstrakte Gefühle und undefinierbare Empfindungen wie von Farben, Geräuschen usw. lernt der Schüler aus sich heraus gestalten. Was zunächst – einmal geweckt – frei und unbehindert als persönlicher Ausdruck erzielt ist, wird dann nach den malerischen oder plastischen Bildgesetzen geläutert zur flächenhaften oder kubischen Form erhoben. Dazu kommt als das eigentliche Problem der Schule die malerische oder plastische Gestaltung erlebter Bewegungen (Kinetismus).“
Mit einer Fülle von kaum bekanntem Material – Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Plastiken – ist es den Ausstellern gelungen, endlich die historische Bedeutung dieses Wiener Kinetismus ins öffentlichen Bewußtsein zu katapultieren. Gezeigt werden Arbeiten von Künstlern und Künstlerinnen, deren Namen bisher nur Spezialisten etwas sagen. Um einige wenige zu nennen: Friedl Dicker, Franz Singer und Georg Teltscher, die zum Teil schon in Wien und dann auch am frühen Bauhaus in Weimar bei Johannes Itten studiert haben, Ludwig Reutterer, Leopold Rochowanski, Otto Erich Wagner, Elisabeth Karlinsky, Marianne Ullmann und vor allem Erika Giavanna Klien. Mit ihrem umfangreichen, formal äußerst konsequenten Œuvre kann letztere als die Leitfigur des Wiener Kinetismus gelten. Ihr mehrteiliges Tableau „Gang durch die Großstadt“ von 1923 zeigt die Disparatheit und Inkohärenz fragmentarischer Seherfahrungen in einer von moderner Technik und hektischem Tempo bestimmten Metropole, und Kliens energiegeladene, vor Dynamik scheinbar berstende „Lokomotive“ von 1926 mit ihrem pointillistischen und kubo-futuristischen Elementen kann geradezu als Programmwerk des Wiener Kinetismus betrachtet werden. Mit der Wiederentdeckung des Œuvres von Erika Giovanna Klien, die 1929 in die USA übersiedelte und 1957 in New York verstarb, durch den österreichischen Künstler Bernhard Leitner begann seit den Sechziger Jahren die allmähliche kunstgeschichtliche Aufarbeitung des Wiener Kinetismus, die mit der aktuellen Ausstellung im Unteren Belvedere ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.
Unter der Überschrift „Esoterik und Moderne“ erinnert eine hochinteressante Abteilung der Ausstellung daran, daß es indes nicht nur um die Sichtbarmachung äußerer Bewegungsabläufe ging, sondern auch um die bildnerische Thematisierung von Bewegung als eines fundamentalen Lebens- und Gestaltungsprinzips und um die Darstellung innerer Prozesse und spiritueller Phänomene, also – zeittypisch für die frühen Zwanziger Jahren – um die Suche nach dem „Geistigen in der Kunst“ im Sinne Kandinskys und anderer Künstler der klassischen Moderne. Die erstaunliche Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks, die dabei in der Ausstellung zutage tritt, ist zweifellos das Ergebnis der überragenden kunstpädagogischen Fähigkeiten des impulsgebenden Lehrers Fanz Cizek, dem schon 1921 attestiert wurde, daß er seine Schüler „zum selbständigen Erleben und Schaffen anregt“ und „Handwerk und Form nicht als ein Erstarrtes, Übertragbares, sondern als ein Lebendiges, jedesmal von neuem zu Erringendes und für jede Zeit und jedes Individuum neu Gültiges erkennt.“
DYNAMIK! - Kubismus / Futurismus / Kinetismus
bis 29. Mai 2011
Unteres Belvedere - Rennweg 6 - A-1030 Wien
täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs 10 bis 21 Uhr
Katalogbuch zur Ausstellung
„Wiener Kinetismus. Eine bewegte Moderne“, hrsg. v. Gerald Bast, Agnes Husslein-Arco, Harald Krejci, Patrick Werkner; mit Texten von Matthias Boeckl, Kerstin Jesse, Marion Krammer, Harald Krejci, Verena Krieger, Bernhard Leitner, Oswald Oberhuber, Monika Platzer, Patrick Werkner und Rainer K. Wick sowie Prologen von Gerald Bast und Agnes Husslein-Arco.
Publikation in der Buchreihe Edition Angewandte beim Springer Verlag, Wien, 2011, 256 Seiten
ISBN: 978-3-211-99143-5 (Deutsch/Englisch), 49,95 € - http://dieangewandte.at/
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