GAU-deamus

oder: Danklied des ungläubigen Thomas

von Michael Zeller
Michael Zeller
 
GAU-deamus    oder
Danklied des ungläubigen Thomas
(Nach einer neueren ukrainischen Melodie)
 
Endlich! Endlich hab ich es gesehen
Dank dir, Herr, für diesen Wink!
Kaputt der Vogel heut am Wegrand
doch einen Grund für diesen Totschlag
den sah ich nicht. Lag da das Ding
ganz ganz und ohne Spuren von Gewalt
und keiner störte es. Selbst die Insekten
ließen sein Strahlen in Ruhe geschehen
 
Also stimmt’s doch! Ich danke dir
Jetzt kann ich endlich tiefer schauen
und reicher werden mir die Menschen
Nicht mehr sind sie – bewahre! – gleich
 
Da sind die Alten Schwachen Siechen
Lohnt es denn noch sie aufzuscheuchen?
Sie sind fein raus. Die späten Folgen
gehen denen nicht mehr an die Nieren
und sollten sich in aller Ruhe
noch ein paar Becquerelchen gönnen
Reserve für den letzten Fall out
 
Und diese Kinder, unsere lieben Kleinen!
Nix Buddeln mehr im Sand. Kein Wiesenhüpfen
und Papi geigert’s MARS-Nachthupferl ab
(Bäbä! sagt er, für unser Schildidrüschen)
Nee, Kinders, nee: Das nenn ich Spielverderben
wegen der Handvoll Caesium-Smarties da
Sind Kinder doch und haben bessere Mägen
Den Rest den packt ihr Märchenglaube glatt
so wie sie Horror aus dem Video schnullern
 
Bleiben nur ich und ein paar meinesgleichen
Ach Gott. Die dreizehn Jährchen minus
am Ende der Bilanz, beim Großen Erbsenzählen
die machen auch den Blattspinat nicht fett
 
Und doch – horcht auf!
weiß ich euch Trost zu sagen
 
Unmeßbar treiben es die Farben
im Friedhof draußen auf den Gräbern
Der Mai quillt hochprozentig aus sich raus
mit Blumen für die Toten ohne Schaden
sind strahlend satt und kennen Reue nicht
 
Du siehst: Es kommt nur auf die rechte Lage an
zumal ich heut das Wunder sah
die tote Amsel unterm Busch
Du gibst mir, Herr, doch weiter Zeichen, ja?
 
 
 
Nachbemerkung, 26.April 2011
 
 
Ende April 1986  - ein blendender Frühling. In diesen Tagen, vor genau fünfundzwanzig Jahren, ist das Gedicht GAU-deamus entstanden.
Der 26.April 1986, als in Tschernobyl, in der fernen Ukraine, ein Reaktor des Atomkraftwerks auseinanderflog, war ein Samstag. Die ersten Zeitungen erschienen erst nach dem Wochenende. Es dauerte Tage, bis sich Umfang und Tiefe dieser Katastrophe nach und nach in die Köpfe der Menschen senkte. Da waren die Ausläufer dieses atomaren GAUs (größtmöglich anzunehmender Unfall) längst auch über Teile Deutschlands abgeregnet. Die Bedrohung der eigenen Gesundheit durch etwas ganz und gar Unsichtbares war für jeden, auch in diesem Land, eine unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben. Viel schlimmer aber empfanden viele von uns damals die weltgeschichtliche Dimension dieses Unfalls, der auch noch Generationen nach uns Verderben bringen könnte. Hier öffneten sich zeitliche Ausmaße, vor der sich unsere gewohnte historische Zeitrechnung lächerlich machte. Es wies in mythische Räume, ja selbst religiöse, die frohgemute Aufklärer hierzulande für längst überwunden erklärt hatten.
In dieser aufwühlenden Unruhe der späten Apriltage 1986 schrieb ich das Gedicht GAU-deamus. Es war ein Akt schierer Notwehr. Heute, beim Wiederlesen nach einen Vierteljahrhundert, bin ich erschrocken über diesen abgrundtief sarkastischen Tonfall. So schreibt nur einer, dem sämtliche Sicherheiten seines Lebens weggebrochen sind, innerhalb einer Woche.

Michael Zeller

GAU-deamus
steht in Michael Zellers Gedichtband LUST AUF BLAU UND BEINE, Frankfurt 1988.