Der Anfang eines Sonntags

von Karl Otto Mühl

Der Anfang eines Sonntags
 
 
Als ich vom Auto aus zum üblichen Lauf- und Walk-Weg gehe, kommen mir schon die ersten Hundebegleiter entgegen, manchmal aber auch eine reifere Frau, die nur mit einem Regenschirm bewaffnet ist. Unwillkürlich frage ich mich: Wo bleibt der Hund?
Sehr junge Mädchen segeln auf Rollschuhen, also Inline-Skates, heran, die Körper wiegen sich dabei harmonisch hin und her. Das würde keiner von diesen Hunden hier bringen, und das bestätigt meine Meinung, daß wir irgendwo den Tieren doch überlegen sind. Obwohl ich mich andererseits mit Hunden auf vielen Gebieten verständigen kann. Aber hier stoßen wir auf Grenzen.
 
In der Bäckerei treffe ich auf die ältliche Bäckerin, die sich gerade von ihrer Grippe erholt hat, und Herrn Dreyer, der in der Vogelsangstraße wohnt und Hausmeister war. Er späht nach draußen und informiert uns: „Da kommt Herr Kampmann. Er war Generaldirektor.“
Ein älterer, schlanker, soignierter Herr in Freizeitkleidung kommt herein. Herr Dreyer umtänzelt ihn mit Fragen. Wo der Sitz des Aufsichtsrates neuerdings sei? Ob er noch ab und zu seinen Rat erteile? Wie er die Entwicklung beurteile?
Offensichtlich werden hier Positionen abgesteckt. Die Majestät trifft ein, Herr Dreyer entpuppt sich als Premierminister, der ihm als erster Ehrerbietung erweist. Und uns zeigt er sein vertrautes Verhältnis zur Obrigkeit. Seine Fragen zeigen ihn sowohl als verständigen Vertrauten als auch als achtungsvollen Untertanen. Majestät geben huldvoll kleine Brocken von Herrschaftswissen preis.
Mich trifft auch ein aufmunternder Blick, den ich höflich, aber reserviert, entgegen nehme. Hier bin ich als Stammgast fein heraus. Ich kann mir das leisten. In meiner Firma hätte ich das nicht gekonnt.
 
Draußen gehen die ersten Besucher in Richtung Kirche. Ich denke, sie irren sich, wenn sie meinen, daß heute noch gruppenweise geglaubt wird. Wir unterstützen aus freier Entscheidung die Kirche, den Turnverein, die Gewerkschaft, die Partei. Viele tun das nicht, darum nehmen die Mitgliederzahlen ab, bei den Fitness-Studios nehmen sie zu. Ist das nicht ein Beweis demokratischer Freiheit?
Wo kämen wir auch hin, wenn jeder nebenbei ein bißchen an die Religion glauben dürfte? Er übersieht ja die schwierige Beweislage, die früher unkomplizierter war. Wenn einer käme und auf den feurigen Wagen zeigte, der soeben mit dem Elias darin gelandet ist, würde man ihm hämisch auflachend sagen, daß André Heller darin sitzt.
„Nein“, würde nach meiner Vorstellung ein christlicher Theologe sagen, „Glaube ist nicht zum Discountpreis zu haben. Es gibt sie nur im Tausch gegen das volle Wagnis des Glaubens, und das ist nicht der Fundamentalismus.“
 
Zurück in die Bäckerei. Inzwischen waren schon mehrere Kunden hier, die meisten grauhaarig, hinkend oder schlurfend. Auch ich muß mich an den Gedanken gewöhnen, daß es sich ganz gut leben läßt, wenn man sich auf das Leben einläßt, statt Vollkommenheit oder Unversehrtheit zu beanspruchen. Und ganz zum Schluß denke ich: Goethe hatte für solche Notizen den Eckermann. Hoffentlich war nichts Belangloses darunter. Aber mein PC schluckt auch alles.
 
Ich hatte gedacht, der Sonntag läge jetzt einigermaßen problemlos vor mir. Aber es kommt anders. Als ich nach einem kurzen Einkauf am Bahnhof durch die Stadt zurückfahre, spüre ich einen harten Schlag. Ich bin mit einem Rad über die Gehsteig-Ecke gefahren, und das hat mir mein Passat nicht verziehen. Er beginnt, ganz ekelhaft zu ruckeln. Eigentlich müßte ich sofort anhalten, aber das geht hier auf der Hauptverkehrsstraße nicht. Ich ruckele noch etwa vierhundert Meter weiter in eine Nebenstraße, wo ich eine Parklücke finde.
Der Schaden ist leicht zu erkennen. Ein Vorderreifen ist geplatzt, die Aluminiumfelge, sie soll nicht billig sein, hat einen Knick. Ich rufe den ADAC, der mir ankündigt, ich müsse etwa eine Stunde auf den Helfer warten.
 
Was immer auch passiert, irgendwie drängt sich das Leben immer heran, auch in langweiligen Wartezeiten. Um mich fast nur hoch aufragende Bürgerhäuser aus der Gründerzeit, manche an steile Hänge gebaut mit langen, steilen Treppen, die zu bezwingen sind. Dazwischen eine mühsame, lange Treppe zu einem Plateau unserer bergigen Stadt führend, benannt nach einem Journalisten, den keiner außer den Historikern kennt. Friedlich bemoost die Quadersteine, aus denen die denen die Seitenmauern dieser Treppe, die in den Berg hineingebaut ist, bestehen. Ich schnaufe hinaus, schätze meine Leistung ab im Vergleich zu meinem Alter. Früher hätte ich erst später geschnauft.
Oben auf dem Plateau fühle ich mich wie auf einem bezwungenen Gipfel. Ich bin in eine Welt hinaufgestiegen - Sträucher, dazwischen eine einzelne Garage. Eine kleine, grüne Insel teilt die Straße. Ich bin aus der Tiefe in eine Welt hinausgestiegen, die mich niemals erwartet hat. Oder doch? Außer mir sind hier keine Leute zu sehen. Und die Häuser, ja, es könnte sein, daß sie mich erwartungsvoll anblicken.
 
Ich steige die Treppe wieder hinab. Als ich unten ankomme, nähert sich gerade das ADAC-Auto. Ich stelle mich Herrn Graßhoff vor. Er ist Neunundvierzig und hat (attraktive, denke ich) Schläfen. Während er mit dem Wagenheber werkelt, um das Reserverad anzubringen, frage ich ihn aus. Nein, er muß nicht in München wohnen, er wohnt in Hückeswagen, direkt an der Bever-Talsperre. Die kenne ich, melde ich voll Stolz.
Hückeswagen kenne ich wie meine Westentasche, behaupte ich. Das Café an der Ecke, die historische Kirche. Kannte er die Lehrerin, die eine bekannte Dichterin war? Sie arbeitete auch in der Bibliothek mit. Die habe ich öfter besucht. Ein eifriges, altes Fräulein.
„Ja“, sagt er, „die kannte jeder. War die nicht am Schluß ein bißchen verwirrt?“.
„Verwirrt? Meinen Sie? Ja, sie war schon krebskrank. Kennen Sie Bücher von ihr?“
 
Nein, die kennt Herr Graßhoff nicht. Er kommt nicht oft zum Lesen. Ich tröste ihn. Ich nähme mir inzwischen auch das Recht heraus, weniger zu lesen, und vor allem nur das, worauf ich neugierig bin. Am Schluß wollte sie unbedingt noch ein Buch herausbringen, berichte ich Herrn Graßhoff. Sie hatte schon sehr lange keines mehr veröffentlicht.
„Und hat sie es herausgebracht?“
Ja, das hätte sie, sage ich, aber sie hätte dafür bezahlen müssen, und zwar viel Geld. Es gäbe Verlage, die machten ein einträgliches Geschäft daraus. Sie hätte einen Kredit bei der Sparkasse dafür aufgenommen.
Sie hatte mir alles erzählt:
Sie, die inzwischen Fünfundachtzig war, war vor einiger Zeit an den Punkt gelangt, wo sie nicht länger auf den Erfolg und die vorausgehende Annahme ihrer Werke durch einen Verlag warten wollte. Sie hatte sich an einen sogenannten Zuzahlverlag gewandt. Daraufhin waren zwei Herren angereist, die von ihrem Werk so bewegt waren, daß sie die Autorin unbedingt kennenlernen wollten. Sie schieden mit einem unterschriebenen Vertrag in der Tasche, der sie verpflichtete, zunächst hundert Exemplare zu drucken und den Titel in ihren Katalog aufzunehmen.
Damit würde sie an die Öffentlichkeit treten. Ihr Buch würde sogar auf der Buchmesse ausgestellt werden. Sie hatte lediglich einen einmaligen Betrag beizusteuern. Die Lehrerin hatte den Kredit aufgenommen, den Verlag bezahlt und schon einmal fünfzig Exemplare bekommen. Zwei davon hatte sie ihrer Stamm-Buchhandlung zur Verfügung gestellt.
 
Und sie reiste zur Buchmesse. Als sie durch die gedämpft murmelnden, menschenerfüllten Hallen

Carola Lepping - Foto © Frank Becker
ging, überrascht durch die Flut von neuen Büchern, die danach schrieen, gelesen zu werden, überfiel sie nicht etwa Hoffnungslosigkeit. Nein, dachte die alte Dame: Jetzt gehöre ich wieder dazu.
Sie wurde am Stand ihres Verlages überschwenglich freundlich empfangen. In einem Regal stand eine ganze Reihe von Exemplaren ihres Buches. Die Tränen traten ihr in die Augen.
Während sie noch beim Begrüßungskaffee mit ihrem Verleger und der Lektorin zusammensaß, kamen zwei Herren, marschierten stracks auf das Regal zu, in dem ihr Buch stand, blätterten darin, blickten überrascht herüber und fragten den Verleger, ob auch die Autorin zum Besuch angemeldet sei. „Sie ist schon da. Hier!“ antwortete der Verleger fröhlich.
Und, sie habe es nicht glauben wollen, jeder der beiden habe zwei Bücher gekauft und sie von ihr signieren lassen. Sie könne es bis heute nicht verstehen. Noch sei es allerdings ihr erster Verkauf. Der Verleger habe die Herren auch nicht gekannt. Er habe sich aber lange und freundlich von ihnen verabschiedet.
 
So ausführlich erzähle ich das Herrn Graßhoff nicht. Er soll weiter stolz sein dürfen auf die Dichterin, die Hückeswagen geschmückt hat.
Ich fahre halbwegs erleichtert nach Hause. Schließlich übersehe ich nicht, daß mich meine schluderige Fahrweise einen Batzen Geld kosten wird. Dazu kommt Bitterkeit. Wozu dichten, wenn am Schluß ein Schicksal wie das meiner alten Freundin steht? Sich zermürben für eine Unsterblichkeit, die keine ist? Entweder sind wir alle unsterblich – oder keiner ist es. Auch nicht die Dichter.
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker