Fluchten

Jörg Aufenanger - „Alles was süß ist, lockt mich.“ - Vierzig Tage im Leben des Heinrich von Kleist

von Frank Becker
„Alles was süß ist, lockt mich.“
 
Jörg Aufenanger erzählt über vierzig Tage
Heinrich von Kleists
im Hause Wieland in Oßmannstedt
 
Eine Biographie Kleists (1777-1811) war ihm vom Verlag angetragen worden, Anlaß sollte der 200. Todestag des früh verewigten Dichters sein, doch Jörg Aufenanger, in den vergangenen Jahren als Biograph u.a. Friedrich Schillers, Christian Dietrich Grabbes und Heinrich Heines sowie Chronist der Liaison Richard Wagners mit Mathilde Wesendonck und Verfasser der „biographischen Einzelheiten zu Goethes Abwesenheit“: „Hier war Goethe nicht“ hervorgetreten, lehnt dankend ab. Zu wenig sei über dessen Leben bekannt, und er bewundere zwar jene, die es dennoch täten, bzw. bereits getan haben – doch eine Biographie auf so dünner Unterlage? Nein. Hingegen habe er sich auf ein wichtiges, belegtes Kapitel von Kleists Leben kapriziert, erklärt Jörg Aufenanger eingangs einer Lesung aus dem nun vorliegenden schmalen Werk, die er im Literaturhaus Wuppertal hielt.
 
Kleist war ein Reisender, ein Fliehender, ein unsteter Dichter ohne rechtes Ziel und wahre Heimat,

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
unbeweibt (sieht man von diversen gescheiterten Verlobungen und Verhältnissen ab) und ohne Hausstand. Kaum irgendwo angekommen, zog es ihn schon wieder fort: Deutschland, Italien, Frankreich, die Schweiz. Projekte werden hochfliegend begonnen, sehr bald aber wieder eingestampft. Das Muster seines Lebens. Militärdienst: hingeschmissen. Studium der exakten Wissenschaften: abgebrochen. Pläne Maler zu werden: aufgegeben. Studium der Musik: wegen selbst erkannter Untauglichkeit schnell beendet. Jedesmal mit einer Flucht verbunden. Nach Lektüre Rousseaus und Kants erneute Flucht nach Paris, dann in die Schweiz, mit dem Vorsatz Bauer zu werden. Auch das wurde zum einen mangels einer passenden Bäuerin, zum anderen wegen seiner Ausweisung aus der napoleonisch besetzten Schweiz nichts. Fast immer dabei: Halbschwester Ulrike, in Männerkleidung. Fragen bleiben offen.
 
Soeben hatte Kleist in der Geßnerschen Buchhandlung in Basel anonym sein Stück „Die Familie Schroffenstein“ veröffentlicht, schon zieht er weiter – „was ist es, das ihn trotz allen Wohlbefindens immer wieder fort treibt?“ Jetzt war es die Einladung eines Giganten der deutschen Literatur seiner Zeit, Christoph Martin Wieland, auf dessen Landgut nach Oßmannstedt bei Weimar. Wielands Sohn Christoph Ludwig hatte er in der Schweiz kennengelernt, weil dessen Schwester Charlotte Wilhelmine mit Kleists Verleger Heinrich Geßner verheiratet war. Verbindungen also.
Zu Wieland also, als dessen Epigone Kleist sich damals gewiß verstand, zu Wieland nach Weimar, das auch Goethe, Schiller und Herder zum Nabel der Welt für ihn machten. Sechs Wochen logiert er in einem schäbigen Gasthof, bis er sich Mitte Januar 1803 zu Fuß auf den Weg macht und von Wieland als Tischgesell aufgenommen wird, gar ein hübsches Zimmer zugewiesen bekommt. Vierzig Tage wird er bleiben, „trotz?“ oder „wegen?“ Luise, der hübschen Tochter Wielands von 13 Jahren und einigen Monaten, der er nun täglich nahe sein wird.
 
Doch Kleist bleibt eingesponnen in seiner eigenen „kokonhaften“ Welt. Er schließt sich ab, führt Selbstgespräche, läßt niemanden, auch Wieland nicht, wirklich an sich heran. Am Ende: wieder eine Flucht. Dresden, Königsberg und wieder Dresden folgen, schließlich Berlin. Unermüdlich schreibt Kleist – „Der zerbrochne Krug“, „Amphitryon“, „Penthesilea“, „Die Marquise von O.“, „Das Erdbeben von Chili“, „Die Hermannsschlacht“, „Michael Kohlhaas“, „Das Bettelweib von Locarno“, „Prinz Friedrich von Homburg“ u.v.a.m..
Schon lange hatte er mit dem Wunsch gelebt, selbst seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht allein, notabene. Endlich findet er nach lange vergeblichem Suchen dazu eine Gefährtin. Am 21. November 1811 begeht er gemeinsam mit der krebskranken Freundin Henriette Vogel Suizid durch Erschießen.

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
 
Jörg Aufenanger erzählt die Geschichte und Vorgeschichte dieser 40 Tage von Oßmannstedt im eleganten Plauderton, so wie er beim Vortrag auch immer wieder gerne absetzt und extemporiert. Die leichte Lektüre entbehrt der Ernsthaftigkeit ihrer Anlage zum Trotz nicht eines gewissen ironischen Tons, was ihr durchaus zugute kommt. Das Bändchen ist im Buchhandel zu haben.
 
Jörg Aufenanger - „Alles was süß ist, lockt mich.“
Vierzig Tage im Leben des Heinrich von Kleist
© 2010 :Transit Verlag, 98 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen und Faksimiles
€ 14,80 (D) / CHF 27,50  -  ISBN 978-3-88747-249-8
 
Weitere Informationen unter: www.transit-buchverlag.de