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Die Kolumne am Mittwoch

von Friederike Zelesko
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Die Kolumne am Mittwoch
von  Friederike Zelesko


Als ich vorletztes Jahr in Österreich war und mit der Eisenbahn in die nächste größere Stadt fuhr, war der viele Schnee von zwei Tagen fast weg. Es gab Föhn und man sah die südlichen Hausberge Wiens, den Ötscher, den Schneeberg und die Rax zum Greifen nah. Augenblicklich dachte ich an eine Wanderung, die ich vor Jahren im Ötscher Gebiet machte: 
Diese  riesigen Felsen und kleine Wege am Abgrund. Dieses Schwindelgefühl, das sich auch oft in ein Gefühl des Fallens verwandelte. Ich hielt mich an den niedrigen, langen Zweigen der Latschenkiefer fest und die wiederum hielten sich in den Felsspalten fest. Wie weit sich wohl ihre Wurzeln in die Spalten zwängten, fragte ich mich und kann ich mich an ihnen festhalten, wenn ich falle?
            Ich bin nicht gefallen, ich vertraute ihnen, waren sie doch das einzige Lebendige neben mir in der harten Wirklichkeit des Steins, zusammen mit ein paar Gräsern und kleinen, blauen Blumen. Immer dort, wo sich ein wenig Erde in die Ritzen verirrte, wuchs etwas. Auch das gab mir Mut, mich dieser harten Welt zu stellen, meinen Fuß im festen Schuh immer wieder auf Stein zu setzen, mich vorwärts zu treiben, angezogen von dem Gipfel, der eine Sicht auf das weite Land freigab. Das mußte ich unbedingt sehen.
            Oben angelangt, atmete ich vor Erleichterung auf, ließ mich auf eine Steinplatte fallen und blickte in den Himmel. Er war sehr nah und ich war glücklich. Ich hatte ein Gefühl des Fliegens. Unter mir lag die Flußschlange der Erlauf, der See gleichen Namens, die Häuser von Mitterbach mit dem spitzen Kirchturm. Alles war so winzig. Ein Spielzeugdorf. Ich glaube, Berge werden nur bestiegen wegen der Erkenntnis, die man auf ihren Gipfeln gewinnt. Und diese ist von Mensch zu Mensch verschieden.
            Irgendwie ist alles auch wieder ein Spiel. Der Gipfelstürmer von gestern sitzt heute im Büro am Computer oder telefoniert. Der Gedankenaustausch durch das Kabelnetz von Telekom ist nur ein Ersatz für eine Wirklichkeit, die sich wie von selbst schreibt. Der Einsatz des Einzelnen ein Ball, der manchmal ins Tor geht, meist aber ins Aus. Ich sitze vor dem Bildschirm wie vor einem Panorama, das eine verrückte Welt in bunten Farben zeigt. Ich mache meine Augen nicht zu vor der eingefangenen Not anderer Menschen in fernen Ländern.
            Aber vielleicht registriere ich diese Bilder nur mit dem erleichterten Blick auf meine Unversehrtheit. Auch ich möchte wie der Schriftsteller Jürgen Becker den Tag anfangen „ohne die Nachrichten zu kennen“. Ich muß sie aber kennen, wenn der Tag zu Ende geht. Mein Übermut, der mit mir schon am Frühstückstisch sitzt, muß gedämpft werden. Leben ist das berühmte Wechselspiel von Gut und Böse, von Macht und Ohnmacht.



© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011