Mach was draus!

Das Westdeutsche Tourneetheater in Remscheid zeigt „Märchenherz“ von Philip Ridley

von Martin Hagemeyer
Mach was draus!
 
Das Westdeutsche Tourneetheater
in Remscheid zeigt
„Märchenherz“ von Philip Ridley
 


Regie: Thomas Ritzinger – Kostümbild: Lolita Erlenmaier – Licht/Ton: Nils Weiss / Oliver Greif – Bühnenbildbau: Nils Weiss / Oliver Greif - Regieassistenz: Lisa Graf.
Besetzung: Kirsty: Verena Sander – Gideon: Niklas Schulz
 
„Jede Betonsiedlung ist ein verzaubertes Königsschloß – wenn wir sie nur richtig betrachten“: Einleuchtend bringt die Figur Gideon auf den Punkt, worum es geht in dem Jugendstück „Märchenherz“, das am 12. März beim Westdeutschen Tourneetheater in Remscheid Premiere hatte – um die Kraft der Fantasie. Bei Autor Philip Ridley wird diese Kraft ganz konkret. Das Mädchen Kirsty (Verena Sander) gewinnt Verständnis für die neue Partnerin ihres Vaters, als sie mit dem jungen Gideon (Gastschauspieler Niklas Schulz) spontane Märchen-Szenen entwickelt und so ihre Situation reflektiert.
 
Regisseur Thomas Ritzinger, sonst Ensemblemitglied, will mit seiner Inszenierung auch eine Lanze für das Potential der Kultur brechen, andere Weltsichten anzuregen; und da paßt es gut, daß Ort der Handlung ein verlassenes Jugendzentrum ist, aus dem Gideon ein Theater machen will. Von der eher verschlossenen Kirsty zunächst skeptisch beäugt, spornt er überdreht an zu Spielereien, die viel mit Improvisation beim Schauspiel zu tun haben: Aus wenigen Vorgaben entsteht die Geschichte der Prinzessin, die im Zauberwald Abenteuer erlebt und dort ihren königlichen Vater zusammen mit einer undurchsichtigen „Äpfelverkäuferin“ findet; dabei werden mit viel Tempo Stahlgerüste in der Halle kurzerhand zu Bäumen, ein Eimer zur Krone, und das Spiel erhält zunehmend eine Eigendynamik.
Daß das Ganze nicht einfach eine fingierte Probe ist, liegt auch daran, daß zur Darstellung der Story dann doch professionelle Theatermittel zum Einsatz kommen: Wenn Gideons Worte Kirsty in andere Dimensionen entführen, verändert das Licht Richtung und Farbe und macht die innere Verwandlung so sichtbar. Das ist Teil der Inszenierung, nicht der Bühnenwelt; denn die Figur Gideon hat natürlich keinen Beleuchter. 
Die straff durchkomponierte Handlung mit ihrer klaren Aussage bringt Regisseur Ritzinger konzentriert auf die Bühne, reichert sie aber auch mit schönen Bildern an: Im Dunkeln vollführen die beiden mit bewegten Kerzen einen Lichtertanz, und die sonst graue Bühne ist am Ende übersät mit bunten Tüchern und damit lebendig geworden.
 
Die Botschaft des Stücks – „Die Welt ist, was du daraus machst“ – ist durchaus plakativ. Aber: Der Zuschauer kann an diesem Abend selbst die Erfahrung machen, daß sie keineswegs selbstverständlich ist.
In seiner Begeisterung malt Gideon dem Mädchen aus, wie er sich sein künftiges Theater vorstellt; dabei weist er nach vorn und fantasiert: „Und hier: Das Publikum! Siehst du es??“ Kirsty verständnislos: „Nein…“ Dies mit frontalem Blick ins reale Publikum, das sich jetzt auf die Spielebene einlassen muß, in der allein es ja nicht existiert. Auch bei den Darstellern möchte man sich Gideons einleitend zitierte Worte zu Herzen nehmen: Niklas Schulz und Verena Sander sind nun einmal keine Teenies, und das kann auch gar nicht verborgen bleiben – aber wenn man sie „richtig betrachtet“, werden sie es doch.
Es scheint, daß die Inszenierung den Zuschauer zum Selbstversuch anregen will: In einer Szene stopft der übermütige Gideon auf dem Boden herumliegende Plastikfolien in sich hinein, und Kirsty erwidert nicht etwa: „Warum frißt du Tüten?“, sondern: „Muß das sein, wie du ißt?“ – als wäre das einzig Auffällige an Gideons Verhalten die Art seiner Tischmanieren. Die Transformation hin zum „echten“ Essen: Das Publikum muß sie selbst vollziehen.
 
Theater kann Welten erschaffen – aber das ist auch eine Aufforderung ans Publikum. Schön, wenn ein Theaterabend daran erinnert.
 
Weitere Informationen unter: www.wtt-remscheid.de