Der ewige Fluchtpunkt

Dieter Richter - "Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung"

von Martin Hagemeyer
Der ewige Fluchtpunkt: „Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung“

Vom Sturm an die Küste von „Mohrenland“ getrieben, den dort hausenden „Platthufern“ und „Einäugigen“ begegnet und von dort weitergereist zum Heiligen Grab in Jerusalem: Der Süden – er bot Herzog Ernst, dem Helden des gleichnamigen mittelalterlichen Reiseromans,  erstaunliche Erlebnisse verschiedenster Art. Dieter Richter zeigt in seinem sehr lesenswerten Sachbuch „Der Süden – Geschichte einer Himmelsrichtung“ aber: Phantastische Kreaturen ebenso wie spirituelle Verheißungen verband man mit den südlichen Gefilden nicht nur wie hier im 12. Jahrhundert, sondern quer durch die Geschichte.
 
Die Darstellung beginnt mit ersten Südexpeditionen der Phönizier die afrikanische Küste entlang; schon für die Ägypter hatte die Himmelsrichtung kultische Bedeutung als der Ort, aus dem der Nil alljährlich die Fruchtbarkeit über das Land brachte. Doch noch im Mittelalter war der Süden, solange er von den christlichen Mächten nicht erschlossen war, „eher Idee als Realität“ (Richter) und forderte Imaginationen wie die eingangs genannten heraus. Reale Erfahrungen mit der Fremde machten dann die Pilger nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela und begannen damit bereits die Tradition des Süd-„Tourismus“.
 
Richters ebenso gehaltvoller wie leserfreundlicher Streifzug durch die Jahrhunderte ist voller Auskünfte, die man sich merken möchte: 1488 erreichten portugiesische Seefahrer die Südspitze Afrikas auf der Suche nach den Gewürzländern Indiens, und ihr König gab dem Kap wegen der „guten Hoffnung“ auf dieses Ziel im Osten seinen bis heute gebräuchlichen Namen. In Renaissance und Barock machten die europäischen Herrscher sich den eroberten Süden dienstbar und umgaben sich gern mit der Exotik südlicher Elemente – vom Löwen über den Orangenbaum bis hin zum menschlichen „Import“, dem „Mohren“. Phantasien neuer Art erregten dann die Inseln der Südsee, seit sie von James Cook und anderen entdeckt wurden: als Orte politischer Utopien –  die Lebensweise der „Wilden“ schien Reisenden und Denkern im Kontrast zum Ancien Régime ideal für ein Dasein in Freiheit und Natürlichkeit.
 
Der Bremer Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker gliedert seinen Querschnitt nicht nur chronologisch, sondern ordnet jeder historischen Phase auch eine charakterisierende Bezeichnung zu – für das 19. und frühe 20. Jahrhundert ist es „Die Region der Lüste und der Laster. Der dekadente Süden.“ Er verweist hier auf Bewunderer südlicher Sinnlichkeit wie den Dichter August Graf von Platen, der erfreut bemerkte, als homosexueller Liebesdurstiger habe man in Neapel „selbst bei den kühnsten Forderungen keinen Korb zu gewärtigen“. Allerdings ist dies keineswegs die einzige Epoche, in der man den Süden ganz selbstverständlich mit erotischer Freizügigkeit verknüpfte: Schon von Torquato Tasso berichtet das Werk, daß er in einem Epos von 1574 einige Kreuzritter auf einer Südseeinsel ein verführerisches Liebesparadies entdecken läßt – freilich verhindert hier christliche Tugend das Schlimmste.
 
So referiert die „Geschichte einer Himmelsrichtung“ immer wieder Haltungen und Zuschreibungen, die im Lauf der Jahrhunderte wiederholt auftauchen. Und schließlich lassen sich auch die schwärmerischen Aussagen über den Süden als heutiges Urlaubsziel (inzwischen ausgeweitet auf Südfrankreich oder die Balearen) ebensogut auf frühere Zeiten anwenden: „[Der Süden] ist das Land, in dem die Sonne scheint. Ein Märchen wird also erzählt: das Märchen vom gelobten Land, Schlaraffenland, der Anderswelt.“
Beispielbild

Dieter Richter
Der Süden.
 
Geschichte einer Himmelsrichtung
 
© 2009 Verlag Klaus Wagenbach

218 Seiten, gebunden. ISBN 978 3 8031 3631 2
24,90€
 
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