Eine Kindheit in Berlin (3)

Schulbeginn in Friedenau

von E.G.

E.G. 1921 - Foto © Musenblätter
Eine Kindheit in Berlin
(3)


Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich an einem Nikolaustag an Wunder zu glauben. Am Nikolausmorgen stand nämlich mein mit Süßigkeiten gefüllter Hausschuh zwischen den beiden Scheiben des Doppelfensters und, wie mir die Erwachsenen versicherten, hatte der Nikolaus  ihn dahin gestellt. Das konnte ich nicht fassen, wie es ihm gelungen war, etwas zwischen geschlossene Fenster zu stellen. Hier muß ich erklären, daß in Berlin damals alle Fenster und Balkontüren doppelt waren, um die Winterkälte besser aus den Wohnungen fernzuhalten.

Schulanfang im April 1921

Von diesem neuen Umfeld aus startete ich also meine Schulzeit im April des Jahres 1921. Meine Mutti brachte mich zur Schule und noch heute weiß ich, wie wichtig und aufregend das Ganze für mich war. Endlich konnte ich auch zur Schule gehen! Das hatte ich mir doch schon so lange gewünscht.
Wir hatten im ersten Schuljahr eine sehr nette Lehrerin, Fräulein Lübke, die wir alle mochten. Natürlich bekam ich am ersten Schultag  - wie alle anderen Kinder auch - eine mit süßen Überraschungen gefüllte Schultüte. Das machte mich dann restlos glücklich.
Mein Schulweg war gar nicht so kurz, ich schätze ca. 2 km, aber selbstverständlich machte ich ihn allein ohne die Begleitung Erwachsener. Bald fand ich Mitschülerinnen, die den gleichen Weg hatten, und es war dann sehr gemütlich, zusammen zur Schule zu gehen.
Sehr traurig war ich, als wir nach dem ersten Schuljahr einen neuen Lehrer bekamen, weil unser Fräulein Lübke die neuen „Kleinen“ als Klasse übernahm. Unser neuer Lehrer hieß Herr Hoffmann, war ebenfalls sehr nett, und später verehrte ich ihn richtig.
 
Unfallhilfe in der Charité
 
Damals holte man die frische Milch sehr gern in einem Kuhstall, so etwas gab es 1920 in Berlin noch. Also wurde auch ich zum Milchholen in einen Kuhstall geschickt, der  ein ganzes Stück von der Wohnung entfernt war. Eines Tages erwischte mich dabei ein übles Mißgeschick. Auf meinem Weg kam ich an großen Fensterscheiben vorbei und konnte dem Drang nicht widerstehen, an eine zu klopfen, bekam es mit der Angst ob meiner Frechheit und rannte weg. Dabei stolperte ich und fiel hin, wobei mein linker Zeigefinger in den  Verschluß der Milchflasche geriet und ge- besser gesagt - zer-quetscht wurde (dieser Verschluß bestand wie bei Bier- oder Seltersflaschen aus einem weißen Porzellankopf mit Gummidichtung, den man mit einer Hebelbewegung in die Flasche, an der er zu beiden Seiten mittels einer Metallverbindung befestigt war, hineindrückte). Anscheinend war er nach dem Milcheinfüllen  nicht richtig geschlossen worden und wurde nun durch mein Körpergewicht (ich war auf die Flasche  gefallen) zugedrückt. Da stand ich weinend mit schmerzendem und blutendem Finger auf der Straße, sicher ein Bild des Jammers, so daß sich fremde Leute meiner annahmen, mir den Finger notdürftig verbanden und mich nach Hause schickten. Tante Timm, die verzweifelt war, benachrichtigte meine Mutti, die so schnell wie möglich kam. Sie entschloß sich, mit mir zur Charité zu fahren, die als Unfallklinik einen guten Namen hatte. Es war eine kluge Entscheidung, wie sich später herausstellte, weil es den Ärzten gelang, meine Fingerkuppe zu erhalten. Allerdings mußte ich dort 3 Wochen täglich behandelt werden. Da die Charité im Berliner Norden lag und es ein sehr weiter Weg von Friedenau dorthin war, bat Mutti ihre Kusine Martha, die nahe der Charité ein Konfitürengeschäft hatte, ob ich bei ihr bleiben könnte und sie mit mir zur Charité gehen würde. Das tat Tante Martha gern und ich wohnte in dieser Zeit also bei ihr, was bedeutete, daß ich in dieser Zeit nicht in meine geliebte Schule gehen konnte. Zum einen war ich darüber traurig aber zum anderen kam ich mir ziemlich wichtig vor, zumal ich bei den Kindern der neuen Nachbarschaft sehr beliebt wurde, da ich von meiner Tante die Genehmigung bekam, den Kindern ab und zu Gummischlangen zu schenken. Die waren bei uns sehr begehrt (sie waren so etwas wie heute die Gummibärchen, das gleiche Zeug, nur in dünner Schlangenform). Die Behandlung in der Charité war ziemlich schmerzhaft, aber ich hielt sie tapfer aus, weil die Ärzte mir gesagt hatten, nur so könnte man vermeiden, daß die Fingerkuppe entfernt werden müßte. Die Narbe am Finger läßt noch heute erkennen, daß es schlimm gewesen sein muß. Sie haben mir nicht nur die Kuppe erhalten sondern auch die Beweglichkeit des Fingergelenks, und dafür war ich immer dankbar. - Über mein Fehlen in der Schule wurde ich ein wenig hinweggetröstet durch einen sehr lieben Brief, in dem mir alle Klassenkameradinnen gute Besserung wünschten, von der Schule erzählten und der – das Wichtigste für mich – einen Gruß vom Lehrer Hoffmann enthielt! Bei Tante Martha  war es trotz der schmerzhaften Behandlung in der Charité auch schön für mich.

Windpocken und Masern
 
In den ca.2 ½ Jahren bei Tante Idchen hatte ich die Kinderkrankheiten Windpocken und Masern. Ich weiß nur noch, daß die Kinder dort, als ich wieder zum Spielen auf die Straße kam, erst mal einen Bogen um mich machten, weil sie Angst hatten, sie könnten sich noch anstecken. - Ich kann mich an diese Zeit schon bedeutend deutlicher erinnern und könnte wohl heute noch den Weg wiederfinden, den ich jedes Wochenende zu Fuß von Schmargendorf über Wilmersdorf nach Friedenau zurücklegte, immerhin ein Weg von mindestens einer Dreiviertelstunde. Man hatte mir damit schon eine ziemliche  Selbständigkeit zugetraut, wie ich meine.


Volksschulklasse 1921 - Foto © Musenblätter
 
Eine neue, bedeutsame Veränderung trat für mich  ein, als ich 8 ½ Jahre alt war und Mutti mich ein halbes Jahr vor Beendigung meiner Volksschulzeit ganz zu sich nach Hause holte. Der  Grund dafür war, daß Tante Timm von einer Nichte das Angebot bekam, ihr im neu eröffneten Lebensmittelgeschäft zu helfen, was einen zusätzlichen Verdienst für sie bedeutete. Das hätte allerdings zur Folge gehabt, daß ich nun auch den ganzen Tag allein gewesen wäre. Wie Mutti glaubte, war ich jetzt schon vernünftig genug, mir das Alleinsein zutrauen zu dürfen, jedoch dann zu Haus bei ihr. 
 
Also, wieder begann ein neuer Lebensabschnitt für mich und die Wochenendwanderungen von Schmargendorf nach Friedenau waren damit zu Ende.




Lesen Sie nächsten Sonntag hier mehr über diese Kindheit, nun ungefähr vor 90 Jahren
Redaktion: Frank Becker - © 2011 Musenblätter