Dr. Fausts Auftrittslied im Spundloch, einer Studentenkneipe in Wittenberg

von Dorothea Renckhoff

Eugène Delacroix fec.

Dr. Fausts Auftrittslied im Spundloch,
einer Studentenkneipe in Wittenberg
 
Ich lebe immer wie in einem Birkenhain,
Dort baust du dir kein Nest.
Die feinen Blätter sind als Schutz vor fremden Blicken viel zu klein,
Und zwischen dünnen Stämmen weht der nasse Wind von West.
 
So ist mein Haus aus Zweifeln zwischen Zweigen ausgespannt,
Die viel zu zart sind, um ein Dach zu tragen,
Und Bank und Bett und Ofen sind hier unbekannt,
Doch ein und aus durch offne Wände ziehen meine Fragen.
 
Ich suche, seit ich denke, und ich finde
Stets nur die Schnitzel einer neuen Spur verwehn -
Ein Zettelchen am Weg, verstreutes Laub und Zeichen in der Rinde,
Mehr lässt das scheue Wild, die Wahrheit, mich nicht sehn.
 
Und Jahre sind es, die ich über Zahlen, Ziffern, Texten brüte,
Ich zähle Staubgefäße, schneide Leichen auf,
Doch alles Forschen bringt mir nichts als noch mehr Doktorhüte
Und zwischen Lehre und Verwaltung geht die gute Laune drauf.
 
So irr ich unruhig durch mein Labyrinth aus silberweißen Stämmen,
Und silberweiße Knoten schlingt die stete Frage mir in Weg und Sinn und Haar,
Und erst am letzten Tag, wenn mich die bösen Feen mit goldnem Kamme kämmen
Erlöst ihr Gift mich von der Suche, die mein Leben war.
 
 
Dorothea Renckhoff


© Dotothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Geschrieben für das Theaterstück ‚Wittenberg‘ von David Davalos, dessen deutschsprachige Erstaufführung
für den 31. März in Berlin beim Theater der Vaganten in der Inszenierung von Peter Lackner vorgesehen ist