Wuppertaler Irritationen

Ein Bericht aus der Welthauptstadt des Free Jazz

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker

Wuppertaler Irritationen

Das Leben in der Stadt war oft irritierend für mich, der ich auf dem Land (genauer: auf der berühmten Gladiolifarm) großgeworden bin. Mit Zwanzig zog ich nach Wuppertal, weil dort das globale Zentrum des Free Jazz war. Damals ist jeder aus diesem Grund nach Wuppertal gezogen. In der Region hat der Free Jazz viele bis zum heutigen Tage bestehende Arbeitsplätze geschaffen, und einen davon bekam ich. „Wo Free Jazz ist, da ist auch massenhaft Geld“ hieß es immer, was, wovon ich mich überzeugte, zweifellos den Tatsachen entsprach. Man verdiente ausgesprochen gut in diesem Bereich. Das war das eine, ein anderes hingegen waren die eingangs  schon erwähnten Irritationen, die das Stadtleben mit sich brachte.

Wenn ich abends von der Arbeit in meine Wohnung zurückkehrte, saß immer ein fremder junger Mann vor dem geöffneten Kühlschrank und starrte hinein. Beim ersten Mal fragte ich ihn, was er da tue. „Ich wohne hier“, gab er mit der größten Selbstverständlichkeit, fast schon beleidigt, zurück. Kleinlaut meinte ich: „Ich aber auch!“ „Das muß jeder selbst wissen“, lautete der Kommentar des Unbekannten. Dann erhob er sich und verließ die Wohnung. Künftig traf ich ihn immer vor dem Kühlschrank an, wenn ich heimkam. Der fremde junge Mensch wohnte in meinen Räumen, inmitten all meines Eigentums, so lange ich fort war. Sobald ich nach Hause kam, ging er wortlos. Nie erfuhr ich, was er in meiner Abwesenheit tat. Er schien nichts zu beschädigen oder zu verschmutzen, auch nichts zu entwenden oder hinzuzufügen, so daß ich mich bald beruhigte und an den Zustand gewöhnte. Möglicherweise war so etwas typisch für das Leben in der Stadt, zumal in einer Stadt, die das globale Zentrum des Free Jazz war. Ich mit meiner Gladiolifarm-Sozialisation wollte mir keine Blöße geben und erzählte niemandem von meinem mysteriösen Mitbewohner. Allzu viele Gedanken konnte ich mir überdies sowieso nicht darüber  machen, dazu beschäftigte mich die Arbeit, die der Free Jazz machte, viel zu sehr.

Eines frühen Morgens wollte ich vor dem Verlassen des Hauses noch schnell etwas in den Keller bringen. Wie staunte ich, als ich dort auf zwei Schlafsäcke stieß, in denen ebenso viele Personen steckten, eine davon der Mensch aus meiner Wohnung. Die beiden schliefen fest, und ich gab mir Mühe, sie nicht zu wecken. Später sah ich den zweiten Schläfer wieder, er begegnete einem hin und wieder im Stadtbild, unverwechselbar wegen seines umgeschnallten Patronengürtels, an dem ein Pistolenhalfter mit Spielzeugcolt hing. Jedenfalls nahm ich eine Zeitlang an, es handle sich um eine Spielzeugwaffe. Eines Besseren belehrt wurde ich dann im örtlichen Jazzclub, wo ich oft in Gesellschaft einiger Arbeitskollegen die seinerzeit ganz neue Extremhüftemusik von Lupe & Millibar hörte. An einem dieser Abende tauchte der Revolverheld an der Bar auf, zog seine Waffe und begann ohne Warnung, wie verrückt auf die Toilettentür zu schießen, bis dieselbe völlig durchlöchert und zerfasert war. Zum Glück hatte sich drinnen niemand aufgehalten. Der Schütze wurde anschließend vom Wirt hinausgetragen. So war das damals in Wuppertal, der Welthauptstadt des Free Jazz.


© Eugen Egner - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007