Frankfurt, blankes Schwert

Erzählung

von Bettina Rosky

 

Frankfurt, blankes Schwert
 
Kurz vor Limburg sah er auf seine Uhr. Acht Stunden hatte er rausgeschunden, acht Stunden, in denen ihn niemand vermissen würde. Er hatte ein kompliziertes Lügengebäude errichtet, das Fundament schon vor Wochen gelegt. Eine Fortbildung, die er leiten müsse, hatte er gesagt und sogar mit einem erfundenen Ablaufplan gewedelt. In den letzten Tagen immer wieder gejammert und über Beckmann geschimpft, der ihm diese Aufgabe aufgehalst habe, sich von Ruth trösten und ermuntern lassen. Seine Frau würde ihn nicht vermissen.
 
Am frühen Nachmittag trafen sie sich auf einem Parkplatz zwischen Kronberg und Hofheim. Katti, die sonnige, die erschütternd junge Katti hatte allerlei Pläne, wo sie mit ihm hinwollte; einen Aussichtsturm würden sie besteigen, und für später habe sie ein Picknick mitgebracht, „eine Kleinigkeit“, sagte sie, packte die riesige Kühltasche um in seinen Kofferraum und ließ sich neben ihn auf den Beifahrersitz fallen. Erst jetzt bekam er den ersten Kuß.
Du bist da“, sagte sie, „ich kann es kaum glauben.“
Er konnte es selbst kaum glauben.
 
Sie dirigierte ihn zu einem schattigen Waldrand, wo sie den Wagen abstellten, und dann gingen sie schweigend bergauf. Es war heiß. Er schwitzte in dem langärmligen Hemd. Katti legte ein gewaltiges Tempo vor, und er bereute, daß er so ritterlich die schwere Kühltasche übernommen hatte. Wenigstens die Wolldecke hätte sie tragen können! Er hatte soviel sagen wollen, wie sie ihm gefehlt hatte und daß er vor Aufregung den ganzen Tag nichts essen mochte, über das Gedicht wollte er sprechen, das sie unbedingt lesen müsse, weil es von ihnen beiden handelte, von ihnen und ihrer denkwürdigen ersten Begegnung im Mai, jenem Paradiestag. Wie er Ruth belogen hatte, wollte er erzählen, und daß er immer mehr Details erfunden hatte, um sie in Sicherheit zu wiegen. Doch jetzt sah er nur auf seine Schuhe, wie sie abwechselnd unter seinem Körper auftauchten und verschwanden. Die Tasche war schwer. Katti zeigte auf ein Gebäude am gegenüber liegenden Hang und sagte etwas, das er nicht verstand; sie drehte sich um, als keine Antwort kam und bemerkte erst jetzt, dass er einige Meter zurückgefallen war.
Eine Suchtklinik“, erklärte sie, als er bei ihr war. Das paßt, dachte er, und gleichzeitig: Nichts paßt.
 
Atemlos erreichte er die Aussichtsplattform des Turms, bemüht, sie nicht merken zu lassen, wie erschöpft er war. Ringsum bewaldete Hügel, lieblich eingestreut die Städtchen, die er nur von der Landkarte kannte, Kronberg, Kelkheim, Fischbach, Dörfer eigentlich. Im Südosten die Skyline Frankfurts, ein silbernes Monument in der dunstigen Ebene. Frankfurt, das Synonym geworden war für Sehnsucht in den vergangenen Monaten, weil SIE dort lebte. Sie, wegen der er bereit war alles aufs Spiel zu setzen. Nichts galt mehr, wenn er an Katti dachte, als gehöre sie nicht zu dieser Welt, als gehörten sie beide nicht zu dieser Welt. Katti und ich, hatte er gemeint, wir müssen, weil wir wollen. Und damit war die Sache besiegelt. Nichts galt mehr.
 
Auf einer Lichtung aßen sie grobes italienisches Brot und Oliven. Er freute sich, als Katti eine Flasche Sekt hervorzog und mit ihm anstoßen wollte. Der würde ihn lockern, hoffte er und trank sein Glas rasch leer, ließ sich nachschenken.
Du mußt was essen“, sagte Katti und schob ihm eine Weintraube in den Mund. Mit Weintrauben gefüttert zu werden war eine seiner liebsten erotischen Phantasien, und sie wußte davon. Monatelang hatten sie nichts anderes getan, als einander in Briefen solche Geheimnisse zu offenbaren. Die Weintrauben schmeckten sauer und hinterließen ein pelziges Gefühl auf der Zunge.
 
Natürlich küßten sie sich. Kattis Küsse waren so anders. Ihre Lippen öffneten sich nur ein ganz klein wenig, und sie ließ ihren Mund minutenlang, wie er meinte, über dem seinen schweben. Oder berührte sie ihn schon? Katti leckte seine Hand. Sie schob ihre kleine Zunge zwischen seine Finger, und ihm war, als dringe sie ein in seinen Körper, wie sie in sein Leben eingedrungen war, unerwartet, heftig und zärtlich zugleich. Er wollte all ihre Berührungen, wollte sie für sich, bedachte eifersüchtig, daß sie wahrscheinlich immer auf diese Art küßte und wünschte plötzlich, sie möge ihm versichern, so sei es noch nie gewesen. Aber er behielt diesen Gedanken für sich, wie er all die anderen Gedanken für sich behielt. Er ließ sie küssen und küßte zurück, alles ging seinen Gang, wie es geplant war; der Sekt, die Wolldecke, das Höschen, der Schlitz. Sie war enger als Ruth, aber andere Unterschiede waren wichtiger. Der Birkenschatten wanderte zu ihnen herüber und warf sein Muster auf Kattis nackte Haut. Er zeichnete Reiserouten zwischen die Inseln und ließ sie glauben, daß es Streicheln sei.
 
Ich will mit dir in ein Weinlokal“, sagte sie beim Abstieg. Er sah auf seine Uhr, sie bemerkte es.
Wie lang kannst du bleiben?“
So lange, wie ich will“, sagte er und wünschte, er hätte es nicht gesagt.
 
Die Sonne stand schon knapp über dem Horizont, als sie auf der Terrasse saßen. Katti hatte Laugenbrezeln zum Wein bestellt, und er aß, obwohl er keinen Hunger hatte, brach kleine Stückchen ab und schob sie in den Mund, kaute und spülte den salzigen Brei mit einem Schluck Wein runter. Weit hinten glitzerten die Türme der Großstadt, sie reflektierten das orangefarbene Sonnenlicht, und auf einmal fiel über die ganze Ebene ein breiter Schein, wie von William Turner gemalt. Er schaute ohne zu blinzeln so lange hin, bis seine Augen schwammen und er Fische zu sehen meinte. Unvermittelt begann sie zu reden.
Ich will nicht immer über Ruth sprechen.“
Aber er hatte doch gar nichts gesagt! Er hatte nicht einmal an Ruth gedacht. Er hatte an ein Lied gedacht, es dunkelt schon in der Heide, nach Hause laßt uns gehen. Und schmerzhaft, doch gleichzeitig beglückend, fiel ihm ein, wie die Strophe weiterging: Wir haben das Korn geschnitten mit unserm blanken Schwert.




© Bettina Rosky - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011