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Die Kolumne am Mittwoch

von Friederike Zelesko
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Die Kolumne am Mittwoch
von  Friederike Zelesko

 


Er saß in der Reihe vor ihr und nahm eine Haltung ein, die einen Bildhauer begeistert hätte. Edith hatte noch nie einen Mann mit einer solchen Grazie sitzen gesehen. Sie war zutiefst erfreut. Sie wartete vergeblich darauf, daß er seine Schultern fallen ließ.
 
Es war ein heißer Sommertag im Juli 95 und Edith hatte vor ein paar Tagen ihren Mann beerdigt, mit dem sie dreiundzwanzig Jahre verheiratet war. In der ungarischen Kleinstadt, wo er bis November 56 gelebt hatte. Nach der Beerdigung und dem Abschied von der Familie war sie für eine Weile nach Keszthely, ans Westufer des Plattensees gefahren, um alleine zu sein, und um nachzudenken. Sie hatte sich ein einfaches Zimmer in der Nähe des Schlosses Festetics genommen, machte lange Spaziergänge im großen englischen Park, der berühmt war für seinen sehr alten, und seltenen Baumbestand aus vielen Ländern der Welt.
 
„Fühlst du nicht an meinen Liedern, / Daß ich eins und doppelt bin?“ Goethes Ginkgoblatt-Gedicht. Es fiel ihr ein, als sie im kühlen Schatten des uralten Ginkgo Baumes stand. Von dort konnte sie auch den Springbrunnen vor dem Schloß sehen, dessen Fontänen sich in der Luft trafen und in einem sanften, glitzernden Wasserfall ein Spalier bildeten. Trotzdem fühlte sie sich verloren und jeglicher Regung eines Gefühls für die Schönheit des Parks beraubt.
 
Nun hielt sie sich seit geraumer Zeit im barocken Spiegelsaal des Schlosses auf, in dem Studenten der Musikhochschule aus Budapest nachmittags Sommerkonzerte gaben. Es gelang ihr nicht, den Blick von diesem Mann abzuwenden. Der Stoff seines kurzärmeligen, weißen Hemdes war sehr fein gewebt. Sie konnte die Haut seiner Schultern durchschimmern sehen. Er unterhielt sich mit einer Frau, die ihr graues Haar klassisch nach hinten gekämmt trug und sich mit einem Batisttaschentuch kühle Luft zufächelte. Da Edith kein Ungarisch verstand, achtete sie nur auf die Melodie der Sprache, die sich in einem vielfachen Summen durch den Raum fortpflanzte.
 
Als die Harfenistin auf der Bühne Platz nahm, verstummte das Summen. Die Hingabe des Mannes an das Harfenspiel berührte Edith so stark, daß sich die Taubheit auflöste, die ihr Denken und Fühlen seit dem Tod ihres Mannes gefangen hielt. Sie schloß die Augen und öffnete sich den überirdischen Klängen der Harfe. Sie entzündeten in ihr ein Leuchtfeuer, lenkten ihre Gedanken in eine neue, wegweisende Richtung. Leuchtfeuer erhellen das Dunkel, weisen den Weg zum Hafen. Wie manche Menschen, die einem Sicherheit geben, und die man nie mehr vergißt.
 
 
© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011