Vom hölzernen Bengele

Christine Nöstlinger Antonio Saura - "Der neue Pinocchio"

von Jürgen Kasten
Christine Nöstlinger Antonio Saura
Der neue Pinocchio

S
o ein unterschiedliches Paar. Was bringt die beiden zusammen? Die Liebe zur Literatur natürlich und die Malerei.
Christine Nöstlinger ist die große Dame der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Einige Male haben wir an dieser Stelle schon ihre prächtigen Bücher besprochen. Nach wie vor sprühen sie vor Witz und Wärme. Ihre Themen sind immer am Puls der Zeit, und sie trifft wie kaum eine andere die Sprache und Gefühlswelt ihrer Leser. Unzählige Preise erhielt sie dafür, unter anderem den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis. Sie zählt inzwischen 74 Lenze und schreibt immer noch. Zuvor arbeitete sie für Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen, nachdem sie zunächst Gebrauchsgrafik an der Akademie für angewandte Kunst in Wien studierte. Dort lebt sie heute noch, wenn sie nicht gerade auf ihrem Bauernhof in Niederösterreich weilt.
Christine Nöstlinger hat den Pinocchio nicht gerade neu geschrieben; aber in einer neuen, zeitgemäßen Sprache in ihrer ganz eigenen Art nacherzählt. Ein liebenswerter kleiner hölzerner Kerl ist dabei entstanden, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Kind aus Fleisch und Blut zu sein. Doch zuerst war er nur ein gewöhnliches Stück Holz, aus dem Meister Kirsche ein Tischbein schnitzen wollte, es dann aber an den alten Gepetto weitergab, denn das Holz schrie und zeterte, sobald Meister Kirsche sein Beil hob, um es zu bearbeiten.
 
Gepetto schuf aus dem Holz einen Hampelmann, der es in sich hatte. Die Nase machte ihm
Schwierigkeiten. Je mehr er daran herum schnitzte, um so länger wurde sie. Kaum war das kleine Kerlchen fertigt, streckte es dem Alten die Zunge heraus und lief davon. Damit beginnt eine lange, abenteuerliche Reise, die den naiven, unwissenden Pinocchio von einem Unglück ins andere stürzen läßt, was allen, die es gut mit ihm meinen, großen Kummer bereitet. Die hinterlistige Katze und ihr Begleiter, der Hund, wollen Pinocchio gar ans Leben. Zum Glück gibt es die liebe Fee mit den lila Haaren, die ihn letztendlich immer rettet und für ein glückliches Ende sorgt. Großartig ist das von

Foto © Jürgen Kasten
Christine Nöstlinger in Szene gesetzt. Sie läßt den Pinocchio meiner Kindheit wieder neu erstehen.
 
„Alle Kinderbücher enthalten eine gewisse Dosis Grausamkeit und Tragik“, sagt Antonio Saura in seinem Nachwort und er zitiert Terenci Moix: „Keine andere Kindergeschichte spiegelt mit derartiger Treffsicherheit den >>Sadismus unserer Kindheit<< sowie den Unterschied zur Welt der Erwachsenen; daher rührt der exemplarische Charakter der berühmten lebendigen Puppe“.
 
Antonio Saura starb 68-jährig bereits am 22.07.08 in Cuenca. Daß er der Bruder des berühmten Regisseurs Carlos Saura war, ist nur nebensächlich. Als Jugendlicher erkrankte Antonio an Tuberkulose, die ihn zu 5-jähriger absolute Ruhe zwang. In dieser Zeit begann er zu malen und zu schreiben. Unter anderem wirkten künstlerische Einflüsse von Arp und Tanguy auf ihn. Saura wechselte von Madrid nach Paris und schloß sich dort, allerdings nur kurz, den Surrealisten an. Nach und nach entwickelte er seinen eigenen, unverwechselbaren gestischen Stil, radikal abstrakt und farbig. Bereits 26-jährig schuf er umfangreiche Werkreihen zu Damen, Akten, Selbstbildnissen, Schweißtüchern und Kreuzigungen. Aufgrund seines ganz eigenen Stils bleibt er unabhängig von allen künstlerischen Bewegungen und Tendenzen seiner Generation.
1959 beginnt er mit Illustrationen berühmter Bücher wie Cervantes´ „Don Quijote“. Orwells „1984“, „Pinocchio“ in der Fassung von Nöstlinger und Kafkas „Tagebücher“.
Alle bisher erschienenen Adaption des Pinocchio hat Saura gelesen und studiert. Nöstlingers Fassung gefiel ihm am besten. Kinderbücher zu illustrieren, speziell den Pinocchio, war Antonio Saura ein echtes Anliegen. „…es ging mir auch darum, dem verworrenen, nebligen und unentzifferbaren Paradies der Kindheit Glanz und Tiefe zurückzugeben.“, sagt er selber.
 
1994 veröffentlichen Christine Nöstlinger und Antonio Saura die erste Auflage des „Neuen Pinocchio“ in spanischer Sprache. Es wurde sofort ein großer Erfolg und erhielt den Preis „Bestes Kunstbuch des Jahres“. Nach Sauras Tod sortierten seine Nachfahren, Freunde und Testamentsvollstrecker sein

Antonio Saura - Pinocchio, S. 98-99 - © Hatje Cantz
umfangreiches Werk. Mit Hilfe einer neuen Reprografie erstellten sie eine Neuauflage des jetzt vorliegenden Buches und druckten es 2010 in vier Sprachversionen.
Carlo Collodi erschuf seinen Pinocchio 1881 zunächst als Zeitungsserie, die wegen des großen Erfolges 1883 schließlich als Buch herauskam. In Deutschland erschien es erstmals 1905.
Christine Nöstlinger fertigte ihre Neufassung 1991 und schrieb die ursprünglich konservativ pädagogische Intention um. Andere Schriftsteller hatten bereits vorher darauf hingewiesen, daß der Pinocchio eher als Erwachsenenbuch angesehen werden muß. Anklänge an die Satire ihrer Zeit seien erkennbar und die Figur des Holzmännchens als Narr gedacht, der den Leser zur Selbstreflexion bringen soll.
Nöstlinger sah es ähnlich, zielte aber mehr auf Kinder als ihre Leser ab. Pinocchio ist bei ihr kein böser Junge, der lügt, faul und ungehorsam ist und deswegen bestraft werden muß. Bei ihr ist er zwar naiv; aber nicht Täter sondern Opfer, weil er in einer Welt wandelt, die ihn nicht versteht.
Nöstlinger findet für alle Ungemach, die ihm zustößt oder die er auslöst eine glückliche Wendung. So ist aus dieser Pinocchio-Adaption ein heiteres, spannendes Kinderbuch geworden, das auch jeden Erwachsenen entzücken wird.
In der kongenialen Zusammenarbeit mit Antonio Saura und seiner Interpretation des Pinocchio ist zugleich ein großartiges Kunstwerk entstanden, das ich Ihnen allen wärmsten an Herz lege.
 
Christine Nöstlinger / Antonio Saura – „Der neue Pinocchio“
Erschienen im Hatje Cantz Verlag

Antonio Saura - Pinocchio, S. 252 - © Hatje Cantz
© 2010 des Textes: Christine Nöstlinger / Beltz & Gelberg, Weinheim
© 2010 archives antonio saura, Meinier / Genf, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern
© 2010 der abgebildeten Werke und Texte von A. Saura bei der Succession Antonio Saura / VG Bild-Kunst, Bonn
ISBN: 987-3-7757-2709-9 (Deutsche Ausgabe)
ISBN: 987-2-940435-04-3 (französische Ausgabe)
Leinen, 300 Seiten, 125 farbige Abb., 22,5 x 25 cm
€ 39,80 (D), sFr. 56,90 (CH)
 
Weitere Informationen: www.hatjecantz.de
 
Redaktion: Frank Becker