Tintenfass - Das Magazin für den überforderten Intellektuellen - Nr. 34

Eine literarische Anthologie über das Land Tells und Dürrenmatts

von Frank Becker
Kopflastig

Die Schweizer haben Gefühle so erhaben wie ihre Berge, aber ihre Ansichten der Gesellschaft sind so eng wie ihre Täler.
(Heinrich Heine)


Fragt man spontan einen Durchschnitts-Deutschen nach einigen Namen von Schweizer Schriftstellern, wird ebenso spontan, quasi wie aus der Pistole geschossen, die Antwort kommen: "Äähhh...". Fehlanzeige. Bohrt man dann noch ein wenig, kommt vielleicht irgendwann Max Frisch auf den Plan, bei Friedrich Dürrenmatt muß man schon Glück haben, doch Gottfried Keller, Franz Hohler (die zwei gehören doch irgendwie zusammen), Urs Widmer oder Alex Capus scheinen wenn auch "irgendwie" bekannt, wie Lukas Hartmann oder Hugo Loetscher doch eher bei deutscher Literatur eingeordnet zu sein.

Damit aufzuräumen hat sich das Tintenfass Nr. 34 vorgenommen, das jährlich im (na klar, Schweizer) Diogenes Verlag in Buchform erscheinende Magazin für den überforderten Intellektuellen. Spricht uns das nicht alle an? Schon allein wegen des Untertitels? Tut es. 392 Seiten haben die Herausgeber Daniel Kampa und Winfried Stephan der Schweizer Eidgenossenschaft verdienstvoll gewidmet, um das erfolgreich neutrale Ländchen im Herzen Mitteleuropas literarisch zu präsentieren. Daß sie sich dabei auch der Hilfe von Stimmen und Zeichenfedern von Nicht-Schweizern versichert haben, sei ihnen nachzusehen - die Schweiz ist zwar kulturell potent, aber doch, na ja: klein.

Und so finden wir - die fallen ja stets zuerst ins Auge - Illustrationen von Tomi Ungerer, Saul Steinberg, Tatjana Hauptmann, Volker Kriegel, H.U. Steger, Paul Flora, Bosc - und leider auch ganz viele schreckliche von Herrn Dürrenmatt, der sich besser auf Schreiben konzentriert hätte. Aber: wir lernen die Schweiz ein wenig besser kennen, und das ist ja das Bestreben dieser Tintenfass-Ausgabe. Meir Shalev läßt sich über das Bircher Müsli aus (ist es eigentlich koscher?), eine der größten Erfindungen der gesunden internationalen Gastronomie - oder vielleicht sogar ein Markstein der Philosophie? Nicht erst Michel de Montaigne und James Boswell haben ihre Schweiz-Besuche schriftlich fixiert, die Fülle der historischen Aufzeichnungen ist enorm.

Goethes linguistische Stümperei, einige der Schweizer Lebenserfahrungen von Patricia Highsmith, Hugo Loetschers delikater Essay über das Wesen der Schweiz, Briefe zwischen Frisch und Dürrenmatt, dessen Preisrede "Die Schweiz - ein Gefängnis" auf Václav Havel im November 1990 bei der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises und Wladimir Kaminers köstliche Sottise "Unsere Schweizreise" öffnen dem interessierten Uninformierten ein aufschlußreiches, zugleich kurzweilig unterhaltsames Fenster zu dem Staat in der Mitte Europas, der die deutsche Reichsgründung, die Nazizeit und den Kommunismus wacker überstanden hat, indem er sich überall fein raushielt und gleichzeitig das oft genug den Völkern fremder Staaten geklaute Geld zum Wohle der diebischen Diktatoren verwaltet hat. Tells Erben sind dabei sicher klug, aber jenseits jeder Moral. Aber das haben Gottfried Keller oder unser aller Idealist Fritze Schiller nicht geahnt. Und derer Literaturen Zinsen sind der eigentliche Wert...

Beispielbild
Titelzeichnung von Tomi Ungerer

Tintenfass Nr. 34
Wann tritt Europa der Schweiz bei?

Eine literarische Anthologie über das Land Tells und Dürrenmatts

© 2010Diogenes Verlag -
    detebe 22034

392 Seiten, Broschur, mit etlichen Fotos und vielen Cartoons von H.U. Steger, Bosc, Tomi Ungerer, Tatjana Hauptmann, Paul Flora, Friedrich Dürrenmatt u.a.
8,- €

Weitere Informationen unter:
www.diogenes.ch