Die Heimkehrerglocke

Eine Erzählung

von Dorothea Renckhoff
Die Heimkehrerglocke
 
Aus dem Tagebuch des reisenden Arztes Gottlieb Waltz aus Halle (1756)
 
Ich habe in diesen Tagen große Fortschritte gemacht auf dem neuen Weg, die äußeren Bilder festzuhalten; Blätter und Blumen, Landschaften und sogar Menschen, alles hat das Licht mir auf meine präparierten Blätter gezeichnet, ohne Feder und Stift. Ich tränke ein Blatt mit Silbersolution, und meine geliebte Camera nimmt es auf in sich und empfängt damit Umriß und Abbild der Welt in ihrer sichtbaren Gestalt, ohne Hilfe einer menschlichen Hand, und was zurück bleibt auf dieser wundersamen Schicht ist recht eigentlich mehr, viel mehr als ein bloßes Abbild, es ist die Spur des direkten Abdrucks einer lebendigen Gegenwart, der festgehaltene Augenblick, das gebannte Wunder, gleich dem nicht von Menschenhand gemachten Bild auf jenem Tuch, in das unser Erlöser sein Angesicht drückte. Doch eifersüchtig duldet das Licht nicht, daß man sein Gemälde bewahre, und zeichnet immer fort, bis das gesamte Kunstwerk in einem beklagenswerten Dunkel versinkt.
Ach, auch das Gotteshaus ist in diesem verelendenden Ort in einem beklagenswerten Zustand, und der nach papistischer Art mit Blumen und Engeln überreich verzierte Schnitzaltar so gänzlich vom Holzwurm zerfressen, daß das ganze unheilige Gebilde am vergangenen Sonntag in sich zusammenbrach, gerade während der Messe, die ich nach weidlicher Überlegung besuchte, um nicht das Vertrauen des abergläubischen Volkes zu verlieren, und das war klug gedacht von mir, denn in ihrer Verblendung schoben sie die Schuld an der wie Hexenkunst furchtsam bestaunten Zerstörung den wenigen verbliebenen Protestanten des Dorfes zu und nahmen die Sache zum Anlaß, sie mitsamt ihren Familien davon zu jagen.
Ich sah die Vertriebenen ausziehen, ich sah, wie sie dem See und der Kirche den Rücken kehrten, um das Tal zu verlassen, ihren ganzen Besitz auf ein paar Saumpferde geladen, auf ein paar Esel, ein paar Wagen; Wagen, mit denen sie holprige Feldwege zu bezwingen hofften, schlammige Straßen und steile Pfade durch nasse Wälder. In den Türen, vor den Häusern standen die Zurückgebliebenen und sahen dem Zug nach. Aber keiner sprach ein Wort, alles blieb still; nichts war zu hören als die Schritte der Verjagten, das Knarren der Räder, und ab und zu das Brüllen einer unwilligen Kuh, die man von ihren Gefährten getrennt hatte. Und verstohlen wandten die Rechtgläubigen schon ihre Blicke von den Fremdgewordenen ab und suchten in deren Höfen und Gärten, was da zu holen, was in Besitz zu nehmen, was gegen den Anspruch der anderen Daheimgebliebenen zu verteidigen wäre. An einem der verlassenen Häuser bewegte sich ein Vorhang, als die Protestanten vorbeizogen, glänzte ein hastig vor dem wahren Besitzer zugeschlagenes Fenster kurz in der Bewegung auf, die den Eindringling verriet, mitsamt seiner Gier, die ihm nicht erlaubt hatte zu warten, bis die Ausgestoßenen das Tal verlassen hätten.
Die Protestanten sahen schweigend auf den Lichtreflex in der Fensterhöhle, gingen schweigend weiter, ein wortloser Chor von Schritten auf der Dorfstraße, die nicht mehr ihnen gehörte. Die Daheimbleibenden standen am Weg, und noch immer sagte keiner ein Wort zum Abschied. So rasch waren die Andersgläubigen zu Fremden und Verfolgten geworden, als hätte man nicht Jahre und Jahrzehnte miteinander im selben Dorf und Haus an Haus gelebt.
Dann begann die Glocke im Kirchturm zu läuten, die sie die Heimkehrerglocke nennen, diese Glocke, deren Klang so weit trägt, daß er oft Verirrten und Verstiegenen den Rückweg aus Nebel und wüsten Bergwänden gewiesen hat. Sie läutete, und niemand wußte, wer das Seil gezogen hatte, niemand auch wollte es hernach gewesen sein. Sie läutete, und viele der Auswanderer sahen starr vor sich hin, geradeaus vor sich, auf den Weg, der aus dem Tal führte, der sie fort führte vom Klang dieser Glocke; Viele wurden ganz steif in der Anstrengung, sich ihrem Ruf zu widersetzen; einige brachen in Weinen aus; aber alle gingen weiter, Manche etwas langsamer, Manche entschlossener, und dann fing ganz vorne im Zug jemand an zu singen, ‚O Gott, von dem wir alles haben,’ die Zunächstgehenden fielen ein, und bald sangen sie alle. Die Zurückbleibenden standen, noch immer schweigend, und sahen sie ausziehen, und hörten sie singen, noch lange, nachdem sie auf dem Weg ganz klein geworden und schließlich um die Biegung verschwunden waren. Sie sangen, als wollten sie den Klang der Heimkehrerglocke übertönen, ‚O Gott, von dem wir alles haben, die Welt ist ein sehr großes Haus…’
In meinem Herzen habe ich mitgesungen, aber meine Lippen blieben verschlossen, denn wenn ich mich hier als Protestant verriete, so wäre dies das Ende meiner Forschungen in diesem verarmten und für mich so reiche Ausbeute bergenden Ort. Aber ich denke mir, daß die Glocke vielleicht von jenem Stelzfuß geläutet worden ist, dessen prachtvolle blaue Jacke so wenig zu seinem Erscheinungsbild paßt. Er sei Offizier gewesen, heißt es, und habe sein Bein im Krieg für die Kaiserin verloren, aber noch nie habe ich eine so schwere Verwundung bei einem Offizier gesehen, denn das Bein ist ihm direkt unter der Hüfte abgenommen. Er ist ein merkwürdiger Mann, und ich habe mich schon gefragt, was er in diesem Dorf im Gebirge sucht. Vor wenigen Tagen sah ich ihn, an einem nebelverwehten Morgen, als ich mit meinem Führer zu einem einsam gelegenen Hof unterwegs war, wo ich fünf Aussätzige zu finden hoffte (es war aber wieder nur Skorbut); der Einbeinige zog mit einem Esel in einiger Entfernung an mir vorbei, ganz allein auf dem Pfad, wie eine Erscheinung zwischen Nebelfetzen und hohen Baumstämmen, und war nach wenigen Augenblicken im Dämmer des Waldes verschwunden. Mein Führer erzählte, daß der Fremde schon viele Kranke im Tal geheilt habe, zuerst mit dem Saft goldgelber Früchte aus seiner Truhe, später mit Brennesseln, aber woher hat einer, der kein Arzt ist, dieses Wissen um eine Seemannskrankheit, der ich nur auf Schiffen begegnet bin, bis ich in dieses Tal kam, wo die Menschen in ihren Gärten nur gelbe Rüben ziehen für das Vieh und selbst nichts essen als eine abscheuliche Suppe aus geröstetem Mehl und Salz? Ich bin der festen Überzeugung, daß er zur See gefahren sein muß, aber keiner weiß mehr über ihn, als daß er Goldstücke besitzt, die sie alle nur zu gern an sich bringen würden.
Einer wie er, der die Welt gesehen hat und nicht in den fest gefügten Vorstellungen dieses abgelegenen Tals befangen ist, könnte sehr wohl die Glocke zum Tönen gebracht haben, um den Flüchtlingen zu sagen, daß sie zu Unrecht vertrieben waren, und den vermeintlich Rechtgläubigen, daß nicht ihnen gehörte, worauf sie schon die gefräßigen Hände gelegt hatten. Warum er das getan haben sollte, weiß ich nicht, aber er gilt als unberechenbar, und sein ganzes Verhalten als unverständlich.
So spricht man auch vom letzten Weihnachtsfest, als ich noch nicht im Dorf war; damals habe man in der Sägemühle ein Theaterspiel aufgeführt, und als der König Balthasar dem Kind in der Krippe sein ganzes Gold darbrachte, habe der Einbeinige mit einem Mal so bitterlich zu weinen begonnen, daß die Umsitzenden ihm ihre Schnupftücher gereicht hätten, und ‚es hilft nichts!’ habe er immer wieder gestammelt, ‚wenn ich auch alles herschenke, es kann nichts helfen, wir sind verdammt und müssen dort hinab, wo die Feuer brennen, und keiner von uns ist jemals glücklich geworden,’ doch wen er meinte mit diesem ‚uns’,  wußte auch mein Führer nicht zu sagen. Es scheint wohl, daß er eine schwere Schuld auf sich geladen und jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hat. Und doch heißt es, er sei für gewöhnlich heiter und freundlich.
Ich aber sah ihn, an jenem Sonntagmorgen, als der Altar zusammenbrach; er war einer der letzten in der Kirche und schob sich immer näher zu dem geborstenen Bildwerk, und plötzlich bückte er sich und hob ein Stück auf, das eine ganze Strecke über den steinernen Boden gesprungen war, es war ein kleiner Engel mit einer Rose im Fäustchen, ich hatte ihn schon oft gesehen, ganz oben in dem geschnitzten Himmel, aber jetzt war sein kleiner Bauch voller winziger Löcher, und sein Gesicht ganz zerfressen, und ich dachte an die vielen Schiffe am Grund des Meeres, die der Holzwurm hat sinken und sterben lassen, und der Einbeinige barg die Figur unter seiner Jacke. Vielleicht ist es aber auch die Darstellung eines Christuskindes gewesen, wer soll sich auskennen mit diesem papistischen Kram.
Doch während ich ihn beobachtete, blickte der Einbeinige mich plötzlich an, seine Augen taten sich auf, und ich sah darin die Bewegung vieler Wellen, eine nach der anderen rollte über einen Abgrund hinweg in eine große Ferne, und an einem weit entlegenen Punkt, ganz tief in seinem Auge, wiegte eine kalte Flut eine Schar von schlafenden Gestalten, die zwischen zerbrochenen Kisten und zersplitterten Planken um einen dunklen Schiffsrumpf trieben. Doch im nächsten Augenblick brach zwischen seinen Lidern ein Schillern auf wie von Glasscherben und verbarg das Bild dahinter.
Dann aber sah ich, wie er eine Hand auf seine Brust legte, dorthin, wo unter dem weichen blauen Stoff das versehrte welsche Kindlein, vielleicht auch das verbotene Abbild des menschgewordenen Gottes ruhte. Er tat es mit einer Behutsamkeit, die schlecht zu ihm paßte, ganz gleich, ob er nun ein kriegserprobter Offizier oder ein Seeräuber war. Und heute denke ich, daß er die kleine hölzerne Gestalt vielleicht in jenem Augenblick zum Leben erweckt hat, als er sie so zart vor der endgültigen Vernichtung zu schützen suchte, und daß der Atem aus dem zernagten Mund in ihm eine Hoffnung auf Erlösung hat erstehen lassen.
Aber wo führt mich das hin, wenn ich für möglich halte, daß ein heidnisches Machwerk, eine geschnitzte Puppe aus totem Holz Mitleiden und Hoffnung in einem erstarrten Herzen wecken kann? Knie ich bald selbst vor geschminkten Bildern und vergoldeten Altären? Wo ist fromme Wahrheit, und wo der übertünchte Tod?
Ach, über all diesen Überlegungen habe ich das Blatt in meiner Camera vergessen; es ist ganz schwarz geworden. Könnte man doch das Licht daran hindern, weiter und immer weiter zu zeichnen, bis das gesamte Bild im Dunkel versinkt. Vielleicht hätte man dann das wahre Abbild. Oder das Abbild der Wahrheit.
 
 
 
© Dorothea Renckhoff – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010