Sind wir das Volk?

Ein offenes Wort

von Peter Bilsing/Bec.

Foto © Frank Becker
Sind wir das Volk?
 
Stuttgart 21 und die Folgen
 
Das hat es seit den friedlichen Großdemonstrationen in der DDR 1989 unter der beschwörenden Formel „Wir sind das Volk“ in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gegeben, einhunderttausend friedliche Bürger, keine linken Chaoten, demonstrieren gegen ein Staats-Prestigeprojekt. Während die Hamburger, die ähnliche Gründe zu Demonstration angesichts Big Ole´s Größenwahnbau Elbphilharmonie hätten (Kostensteigerung von 70 auf gute 500 Millionen, ohne daß ein Ende absehbar ist) und sogar die Rheinlandpfälzer angesichts des 500 Millionen-Euro-Grabes „neuer Nürburgring“ die drei-Affen-Strategie des Nichthören, Nichtsehens und Schweigens praktizieren, gehen die einst braven Schwaben auf die Straße.
 
Aber, aber so hören wir von Seiten der Vollstrecker: „Stuttgart 21 wurde mit demokratischen Mehrheiten beschlossen und von Gerichten bestätigt.“ Da gibt es nun nichts mehr dran zu rütteln. Da könnte ja jeder kommen… Wirklich? Und was sagen die Protestler dazu:
 
1.) Beschlossen wurden seinerzeit Kosten, die heuer um das Zigfache des vereinbarten und genehmigten Preises überschritten werden. Fachleute sagen, daß alles wahrscheinlich mit den Zusatztunneln im Umfeld ca. zehnmal so teuer werden wird. Also liegen heute völlig andere Vorrausetzungen vor. Man hat, wie so oft, den Bürger nach Strich und Faden belogen und betrogen.
 
2.) Die Planung ist konkret von leichten und schnellen Güterverkehrszügen ausgegangen. Der Trend im Güterverkehr geht aber zu langen und schweren Zügen. Die können die Steigungen der geplanten Neubaustrecke überhaupt nicht bewältigen.
 
3.) Weil Stuttgart 21 soviel teuer geworden ist, bleiben weitere Bauvorhaben wie etwa die Rheintalbahn, die als wichtigste deutsche Frachtverbindung Nordsee und Mittelmeer verbindet, auf der Strecke. Der Güterverkehr wird weiter auf die Straße verlagert. Transnationale Trassen werden vernachlässigt und viele kleine wichtige Projekte auf den St. Nimmerleins-Tag verschoben.
 
4.) Stuttgart 21 würde mit der Neubaustrecke nur fakultativ kürzere Fahrzeiten in Richtung München schaffen. Das wäre auch mit etwa zehn Prozent des geplanten Aufwands realisierbar, nämlich durch einen effektiveren Fahrplan und die Begradigung kurvenreicher Abschnitte.
 
5.) Im neuen Durchgangsbahnhof Stuttgart 21 können die Züge nicht mehr aufeinander warten, denn um das Verkehrsaufkommen mit nur acht Gleisen zu bewältigen, sind für den Halt nur ein bis zwei Minuten Zeit eingeplant. Gerade alte Leute, Behinderte und Jugendgruppen wären die Opfer.
 
6.) Zudem sollen unsinnigerweise am Stuttgarter Flughafen zwei Bahnhöfe im Abstand von etwa 250 Metern entstehen. Aus Kostengründen soll auch das S-Bahn-Netz mit genutzt werden. Sicherheitsbedenken des Eisenbahnbundesamtes werden schlicht umgangen bzw. ignoriert.
 
7.) Der Stuttgarter Hauptbahnhof, zwischen 1914 und 1928 von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer erbaut, steht seit 1987 unter Denkmalschutz. Die Deutsche Bahn will Teile des Bahnhofs abreißen, obwohl er in höchster Kategorie (!) geschützt ist. Gelten solche Gesetze nur für den kleinen Bürger und sein traditionelles altes Fachwerkhaus oder den historischen Dorfbrunnen?
 
8.) 70 Prozent der Reisenden aus dem Norden steigen in Stuttgart aus, denen nutzt eine beschleunigte Neubaustrecke nach München gar nichts. Zur so oft von der Politik betonten "Magistrale" Paris-Stuttgart-Bratislava sagt ein Insider der Bahn: Vielleicht werden zwei oder drei Tickets von Stuttgart nach Bratislava verkauft. Kein Mensch will nach Bratislava.
 
9.) Und wieso ist ein Zurück politisch oder wirtschaftlich nicht möglich? Die regierende Bundes-CDU ist ja jüngst auf den Spuren des Geldes auch zurückgerudert und hat den „unwiderruflich“ beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie mit ein paar Kotaus vor den mächtigen Energieunternehmen und wenigen Federstrichen rückgängig gemacht.
 
Eigentlich genug Argumente für jeden normal denkenden Menschen, oder nicht?
 
Doch Ministerpräsident Mappus will nicht mitziehen; gerade machte er seinem Spitznamen „Rambo“ wieder alle Ehre, als er eine Polizeikampftruppe (Eine Riege von gut 500 bis an die Zähne bewaffneten Einsatzkräften vermummt wie SEK-Leute im Vollvisierhelm) gegen Schüler und alte Leute mit Wasserwerfern und Pfefferspray mobilisierte. Jugendliche wurden wie Säcke durch die Gegend geworfen und festgesetzt. Man muß sich ernsthaft fragen: Wie lautete der Einsatzbefehl? Warum solche Brutalität, statt vernünftiger Deeskalation, wie sie in NRW und anderswo (z.B. Anti-Kernkraftdemos) seit Jahrzehnten friedlich betrieben wird.
 
Ein Zeuge: „Ich sah, wie Polizisten mit Pfefferspray gezielt Bürger attackierten. Nicht, um sich zu verteidigen, sondern um anzugreifen. Habe gesehen, wie alte Menschen und Kinder verletzt weggeschleppt werden mußten.“ Deutschland Anno 2010. Man möchte es einfach nicht glauben!
 
Der vernünftige Bürger fragt sich, wann hier die richtigen Chaoten auf den fahrenden Zug aufspringen. Und sicherlich nicht wenige Betroffene stellen sich nun rückblickend die Frage, ob die Geschichte der 68er Demos und des RAF-Umfeldes nicht vielleicht doch ganz anders ausgesehen hat, als bisher bekannt.
 
Die Polizei, dein Freund und Helfer (denn so sehen sich Polizeibeamte idealistisch selbst), wird von der geldhörigen Politik missbraucht, zur rücksichtslosen Schlägertruppe degradiert und keiner wehrt sich. Wo sind die vernünftigen Polizeisprecher? Wo die Gewerkschaften? Hier wird der Ruf unserer Polizei irreparabel beschädigt und bewußt ruiniert. Für was? Mittlerweile hat man anscheinend Fehler eingesehen von Seiten der Polizeiführung – doch nichts passiert. Herr Polizeipräsident Stumpf, bitte umgehend zurücktreten! „Fisch stinkt immer vom Kopf“ sagt ein deutsches Sprichwort
 
Was nun, wie geht es weiter? Stichwort: Volksbegehren
 
Wir sind das Volk. Nehmen wir jedenfalls an. Warum also keine Volksabstimmung? Immerhin hat die SPD angeblich eine Bestimmung in der Landesverfassung entdeckt, die bei einem Dissens zwischen Landesregierung und Landtag eine Volksabstimmung zuläßt (Artikel 60 Absatz 3). Doch da kommen die Gegner: „Alle Gesetze, die den Landtag zu einer Neuordnung des Gesamthaushalts zwingen, dürften nicht vom Volk beschlossen werden, weil dies mit komplexen Haushaltsfragen überfordert sei. (Verfassungsrechtler Dolde & Kirchhof). Das ist nun wirklich kein Witz! Nicht mal mehr zwischen den Zeilen heißt das: „Volk, Du bist zu blöde! Vox populi – vox Rindvieh!“
 
Plötzlich geht die Politik aufs Volk zu, meldet gestern die Presse: CDU-Sympathieträger Heiner Geißler soll´ s richten, soll neu vermitteln. Was ist denn nun passiert?
 
WAHLEN! Seit über 50 Jahren regiert die CDU in Baden-Württemberg; Wahlforscher prognostizieren der Christlich Demokratischen Union (man muß sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen) für die im März stattfindende Landtagswahl ein Debakel. Mappus wird mit seiner Partei, so berechnen Statistiker, schon aufgrund der aktuellen Umfragen, ins bisher nie gesehene Bodenlose fallen. Nachtigall ick hör dir trapsen. Nun heiße es nur noch "bis zur Landtagswahl durchhalten."
 
Gipfel der Dreistigkeit: Bahnchef Grube ging am Wochenende so weit, daß er den Gegnern die Legitimation für ihre Proteste absprach. "Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht". So etwas nennt man Grundgesetz-Beugung, Herr Grube! Man muß sich ernsthaft fragen, mit was für „Persönlichkeiten“ Führungspositionen bei der Bahn besetzt werden?
 
Oder ist das der wahre Gund? Wohlinformierte Skeptiker argumentieren, daß der unterirdische Bahnhof für Mappus & Co. ein reines CDU-Immobilienprojekt sei, beschlossen von einer Kleingruppe Parteifreunde, um innerstädtischen Bauraum zu gewinnen; immerhin sind das gut 100 ha..
 
Die eventuelle Lösung: Kündigung der Verträge zwischen Bahn und Land. Doch der städtische Obergutachter Dr. Peter Dolde argumentiert, daß eine Kündigung der Verträge zwischen Land und Bahn nicht möglich sei. Die Opposition: das Verwaltungsverfahrensgesetz sieht eine Kündigung öffentlich-rechtlicher Verträge bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse ausdrücklich vor (Paragraph 60).
 
Noch Fragen, Kienzle?
 
 
Die Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Einzelnen sind in den Polizeigesetzen der Länder geregelt, in Baden-Württemberg in den §§ 49 ff. des Polizeigesetzes Baden-Württemberg (PolG BW). Danach darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (§ 52 Abs. 1 Satz 1 PolG BW).
 
Gegenüber einer Menschenansammlung darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn seine Anwendung gegen einzelne Teilnehmer der Menschenansammlung offensichtlich keinen Erfolg verspricht (§ 52 Abs. 1 Satz 4 PolG BW). Unmittelbarer Zwang darf nicht mehr angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck erreicht ist oder wenn sich zeigt, dass er durch die Anwendung von unmittelbarem Zwang nicht erreicht werden kann (§ 52 Abs. 3 PolG BW).
 
Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein (§ 52 Abs. 1 Satz 3 PolG BW). Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass gegenüber Kindern und Jugendlichen ebenso wie etwa gegenüber alten und gebrechlichen Menschen mehr Zurückhaltung zu üben ist als etwa gegenüber einem kräftig gebauten und großgewachsenen Mann.