Wespentod

von Michael Zeller
Wespentod

von
Michael Zeller
 
I.
Das Sterben der Wespen im Herbst, jedes Jahr wieder. Landolf hätte nicht sagen können, seit wann ihn der Anblick sterbender Wespen so interessierte, ja fesselte. Seit ein paar Jahren nahm er an sich wahr, wie seine Augen sich auf dem Blatt verloren, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, wenn er auf dem Fensterbrett eine dieser späten Wespen vor sich sah, und wie er dabei den Kontakt zu seiner Arbeit verlor. Wenn ein Insekt auf steifen, dünnen Beinen vorwärtskrabbelte, wie trunken (todestrunken?), ohne ein rechtes Ziel mehr, taumelte eher als ging, jeden Moment umzukippen drohte, auf die Seite, auf den Rücken, mit den Flügeln sich wieder hochzustemmen versuchte. Das fesselte Landolf. Da ist es also wieder mal so weit. Herbst. Die Wespen sterben. Der Natur gehen die Kräfte aus, in unseren Breiten. Heute gelang es dem Tier noch einmal, sich aufzurappeln. In den nächsten Tagen, das ahnte Landolf, nein, er wußte es, würde es liegen bleiben, sterben.
Dieses Sterben an seinem Arbeitsplatz übertrug sich auf sein Verhältnis zu den Wespen (wie großartig das klang, wie lächerlich!) auch während des Sommers, wenn es heiß war und die Insekten im Gefühl ihrer Kraft, der Gier nach Leben, an seine Speisen gingen und die Getränke, schon lange nicht mehr nur an die süßen. Wenn alle Menschen um ihn herum mit ihrem hysterischen Gefuchtel versuchten, die gefährlichen Schmarotzer zu vertreiben, blieb er ruhig. Auch im Sommer hatte er keine Angst vor ihnen. Denn im Herbst erfuhr er sie eigentlich. Da erst galten sie für ihn. Ihre sommerliche Angriffslust nahm er übers Jahr nicht ernst, für sich jedenfalls. So ließ er das Tierchen auf seinem Teller sitzen, dem Glas, auf der naßgeschwitzten Haut, ohne jede Furcht. Er fühlte sich unberührbar von ihnen. Immun. Und nie hatte er in den Tagen des Hochsommers sein Vertrauen zu bereuen.
Dieser Septembermorgen, an seinem Schreibtisch. Ein zweites Tier schleppte sich sterbensmüde über die Platte, mühte sich, am Rand seines Kaffeebechers hochzuklettern, versuchte es wieder, mit allzu schwachen Kräften. Landolf half der Wespe auf, mit dem Blatt Papier, das vor ihm lag – bloß Papier noch -, hob sie ans Fenster, ins Freie. Doch sie flog auch jetzt nicht los. Sie krabbelte über den Fensterrahmen draußen, als hätte sie jede Lebensorientierung verloren, suche nur noch einen Platz zum Sterben. Vielleicht will sie ja lieber im Zimmer bleiben, im Dunkleren, dachte er, plötzlich im Zweifel, ob er ihr überhaupt etwas Gutes damit tat, wenn er sie an die Luft setzte.
Immerhin hatte er bei seinem Rettungsversuch bemerkt, wie stark die Sonne heute noch wärmte. Solange sie da war, wollte er das Fenster offen stehen lassen und an der frischen Luft schreiben. Es war ihr schon ein kühler Zug beigemischt, aber sie schien ihm doch immer noch warm genug. Erinnerung an Sommer. Die Wespe hatte ihn darauf gebracht, die sterbende. Und auch an den folgenden Tagen, solange das Hoch anhielt, arbeitete Landolf am offenen Fenster.
 
II.
Auch heute wieder. Sonntag. Es war eine gute Ruhe um ihn und in ihm. Der Kaffee war gelungen. Stark, nicht zu stark. Landolf trank aus seinem alten Becher. Da spürte er beim Schlucken etwas Hartes im Mund, das nicht dazu gehörte. Etwas Gepanzertes. Das Getränk war schon hinten an seiner Kehle, er könnte es vielleicht noch ausspucken, auf das Papier vor ihm – sekundenkurze Scheu -, und dann doch auch die Lust, sich den gewohnten Trank einzuverleiben, oder bloß die Mechanik des Schluckens, die über seine Vorsicht siegte. Er schluckte und spürte dabei einen heftigen Schmerz in der Speiseröhre, ein Reißen. Nein: einen Stich. Gefahr, dachte Landolf, ruhig. Da stimmt etwas nicht. Panik empfand er keine. Er mußte schlucken, mehrmals, und jedes Schlucken schmerzte. Er eilte in die Küche. Trank Wasser, nahm sich nicht die Zeit für ein Glas. Direkt aus der Flasche, von Hals zu Hals. Es geschah ihm etwas da hinten in seinem dunklen Inneren. Ein Reiben wie auf rohem Fleisch. Etwas sperrte. Beim Nachtrinken floß ihm das Wasser aus dem Mund zurück, ums Kinn, in das Hemd hinein. Ein Schreck, aber immer noch keine Panik. Luft! dachte Landolf. Du brauchst Luft. Brechen. Ich muß mich erbrechen. Er ging ins Bad. Nein, jetzt stürzte er dorthin, beugte sich über das Toilettenbecken, tief hinein. Luft … Luft! Er steckte sich den Finger in den Mund, bis hinten ans Zäpfchen, der Finger schien zur Faust zu werden, der ihm den Rachen verstopfte. Er riß die Faust aus dem Mund, schaute sich seine Hand an, verwundert. Finger. Nur Finger, dachte er. Meine Schreibhand …
 
III.
Wie oft hatte Landolf sich die Spottreden seiner Freunde anhören müssen! Anfangs ärgerte er sich noch darüber, wenn sie ihn fragten, ob er das denn schon nötig habe. Eigentlich sähe er doch immer ganz munter aus. Jetzt, in diesem Augenblick, schickte er einen Stoßseufzer des Dankes an den Himmel. Nah bei seiner Wohnung, direkt um die Ecke, war vor einer Weile eine Station des Roten Kreuzes eingezogen. Ein paar Schritte nur. Luft. Luft! Er hatte keine Lust, in diesem Herbst schon den Wespentod zu sterben. Nein, jetzt nicht! Er war ja mitten drin in seiner Geschichte. So etwas hatte er noch nie geschrieben. Sie brauchte ihn noch eine Weile.
 
 
 
 
© Michael Zeller – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010