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Die Kolumne am Mittwoch

von Friederike Zelesko

Foto © Frank Becker
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Die Kolumne am Mittwoch
von  Friederike Zelesko
 
 
Seit Hunderten von Jahren steht die Kirche am Ende der Rue Villar. Im niedrigen Seitenschiff sitzt eine alte Frau und verkauft Eintrittskarten für das Orgelkonzert. Hier ist es dunkel und kühl. Vor ihr flackern brennende Kerzen. Ein sanfter Schein zuckt unaufhörlich an der dicken Mauer empor. Als ich frage, ob die Texte, die zwischen den einzelnen Orgelstücken gelesen werden, gedruckt vorliegen, verneint sie erstaunt. Es ist Kultursommer in St. André de Sangonis, nicht weit von Montpellier. Ich verbringe meine Ferien hier in einem traditionellen französischen Dorfhaus. Von der Dachterrasse aus kann ich die Straße überblicken, die Rue Villar.
            Die Witwen der Rue Villar gehen samstags in die Abendmesse, denn sonntags schlafen sie aus. Bevor sie sich in die Kirchenbank setzen, berühren ihre Fingerspitzen die Fingerspitzen der Nachbarinnen. Sie geben das Weihwasser weiter, mit der Hand, die sie zuvor in das Weihwasserbecken tauchten. Es ist eine dienende Geste aber auch eine segnende. Die Witwen tragen Schwarz. Nur eine Frau trägt ein helles Sommerkleid mit Blumenmuster. Diese Blumen kennen keinen Tod. Die Witwen sind mit dem Tod verbunden, seiner reflexlosen Berührbarkeit, seiner Stummheit für alle Zeit. Seine Nähe schafft eine einsame Distanz. Sie läßt sie frösteln und trauern. Vielleicht legen die Witwen deshalb auf die Gräber der Männer die Immortellen – die unvergänglichen Blüten. Die Häuser in der Rue Villar stehen eng beisammen. Sie stützen sich in ihrer immer älter werdenden Ruhe.
            Doch der wilde Wein  bekleidet die alten Mauern jedes Jahr neu. Das Leben findet am großen Dorfplatz statt, wo die Musik spielt, wo es gutes Essen in den Restaurants gibt, wo mit dem Tanz der Hochzeitsgesellschaft das Leben und die Liebe gefeiert wird. Am Markttag leuchten aus den Holzsteigen die Farben. Das Tomatenrot, das Zucchinigrün, das Melonengelb. Die Knoblauchzehe schlüpft aus dem lila Schuh. Auf den Dächern der Häuser legen sich hautfarbene Ziegel übereinander, berühren sich rücksichtsvoll mit ihrem runden Gewicht. Sie tragen sich selbst und den darüber wehenden und rufenden Glockenton vom Turm.
            „Es ist schon möglich, daß man im Laufe der Zeit an mehrere falsche Frauen gerät. Bei der Wahl seiner Witwe aber sollte man keinen Fehler mehr machen.“ sagte Sacha Guitry, und er sollte es wissen, denn er war Dramatiker, aber auch ein Franzose. Es scheint so, als hätten die Männer – der Herr schenke ihnen die ewige Ruhe – mit ihren Frauen die richtige Wahl getroffen. Die Witwen sind stolz und gehen aufrecht. Tagsüber sitzen sie in Grüppchen in einem zur Straße hin geöffneten Raum, der ihnen als Nähstube dient. Früher, als die Männer noch lebten, roch es hier bestimmt nach Fahrradöl. Heute riecht es bis auf die Straße betörend nach Lavendel. „Bonjour Madam“, grüße ich und lächle, und die Witwen der Rue Villar lächeln zurück.  
       


© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010