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Die Kolumne am Mittwoch

von Friederike Zelesko
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Die Kolumne am Mittwoch
von Friederike Zelesko
 
Ich stutzte, als ich zufällig in der Tageszeitung unter der Schlagzeile „Jagdszenen in der City“ ein Foto entdeckte. Auf dem Foto waren rechts zwei Polizisten in der Fußgängerzone der Stadt von hinten in ihrer Gehbewegung festgehalten. Der linke Polizist streckte seine Arme aus, um einen entgegenkommenden Radfahrer zu stoppen. An seinem linken Handgelenk erkannte ich deutliche eine Uhr. Die Polizisten waren kurzärmelig. Es war ein schöner sonniger Tag, denn das Weiß ihrer Schirmmützen strahlte. Am Hosenbund des linken Polizisten, gleich unter dem Hemd, baumelten ein Paar Handschellen. An seiner rechten Hüfte steckte eine Pistole im Halfter. Wie zufällig berührte auf dem Foto eine Hand die Pistole. Es war die linke Hand eines jungen Mannes, der vor dem rechten Polizisten ging. Der rechte Polizist verdeckte ihn. Nur der Hinterkopf des jungen Mannes, seine linke Schulter und die linke Hand waren zu sehen.
            In der Mitte des Fotos war der Radfahrer in der Fußgängerzone in seiner Radfahrerbewegung festgehalten. Sein Gesicht war herausgeschnitten. Es gähnte ein schwarzes unheimliches Loch. Er war der Straftäter, der nicht erkannt werden durfte.
            Auf dem Foto links waren vier Passanten ebenfalls in ihrer Gehbewegung festgehalten. Sie  waren zufällige Zeugen der Straftat. Ihre Gesichter waren deutlich abgebildet. Ich erkannte mich sofort, aber konnte mich an diese „Jagdszene“ überhaupt nicht erinnern.
            Ich frage mich nun, wie funktioniert das eigentlich mit der Erinnerung, die nichts anderes ist, als eine mentale Wiederbelebung früherer Erlebnisse. Sind es die Erinnerungen die uns bis in den Traum verfolgen? Jeder von uns ist froh, aus einem unsinnig erscheinenden Traum aufzuwachen. Er beweist aber auch, daß ich etwas unbewußt gespeichert habe. Wenn ich diesen Traum nicht aufschreibe, ist er schon nach einer Stunde wieder vergessen. 
            In meiner Erinnerung gibt es oft ein schwarzes Loch, besonders weit Zurückliegendes kann ich schwer abrufen. Es sind dann die schwarzweißen Familienfotos, die mir auf die Sprünge helfen. Wenn ich ein Bild meiner Großmutter sehe, dann sehe ich gleichzeitig ihr kleines Häuschen mit dem Garten und dem alten, schadhaften Bretterzaun durch den wir Kinder schlüpften. Meine Mutter sehe ich in unserer Wohnküche am Herd, den Vater wiederum, wie er am Tisch sitzt und am Radio dreht, um den Sender zu suchen, der das Fußballspiel überträgt. Fotos sind wie Fahrzeuge in die wir einsteigen, um uns zu erinnern. Wir inszenieren konsequent eine subjektive Wahrnehmung mit all ihren Nachteilen und Möglichkeiten und erschaffen eine eigene Welt. In jedem Menschen spielen sich viele „Jagdszenen“ ab im Laufe der Jahre.




© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010