Ohrringe

Eine zärtliche Erzählung

von Hermann Schulz

Foto © Frank Becker
Ohrringe
 
Der Mann H., 36 Jahre alt, besuchte einen Geschäftskongreß in Sao Paulo. Es war sein erster Besuch in Brasilien und er bedauerte, Tage und Abende in stickigen Vorlesungsräumen der Universität mit nicht weniger stickigen Vorträgen und Diskussionen verbringen zu müssen. Da ihm die Reise bezahlt worden war, fühlte er sich zur permanenten Teilnahme verpflichtet,  hoffte aber doch auf eine Gelegenheit, wenigstens einen Blick auf das wirkliche Leben dieses Landes werfen zu können. Er wußte nur noch nicht, wie das zu bewerkstelligen sein könnte.
 
Ein Teil der Gäste des Kongresses,  eine Clique von Gleichgesinnten, wie sie sich auf allen Kongressen bildet, beschloß, am Schlußabend in eine Samba-Bar zu gehen. Ein brasilianischer Kollege bot sich an, sie zu begleiten und zu führen.
 
Aber es wurde zunächst durchaus kein brasilianischer Abend. Die Gruppe blieb unter sich, beäugte die dunklen Schönheiten und galanten Männer an der Bar und an den Nebentischen. Getanzt wurde wenig. Weil die Musik  laut war, kam auch kein rechtes Gespräch in Gang. H. überfielen Resignation und der Wunsch, fortzugehen.
 
Als einige Paare aus der Gruppe auf die Tanzfläche gingen, saß H. allein inmitten der verlassenen Stühle. Er wandte sich seinem Bier zu, hörte dann aber dicht an seinem Ohr eine weibliche Stimme. Er verstand kein Wort, sah auf und blickte in das dunkle Gesicht einer Frau, die ihn offensichtlich zum Tanz aufgefordert hatte. Überrascht erhob er sich, ließ sich bei der Hand nehmen und zur Tanzfläche führen.
 
Sie trug ein enges, glitzerndes  Kleid, goldenen Schmuck und zahllose Ringe an der Hand.
 
Er versuchte ihr zu sagen, daß er sei leider kein großer Tänzer sei, aber sein Gestammel ging unter und wurde gegenstandslos, als sie ihm die Arme um den Hals legte, ihn an sich drückte und langsam, sehr langsam zu tanzen begann. Sie tanzte unabhängig vom Tempo, vom Rhythmus der Musik, sie tanzte einen Tanz, den sie jetzt erfand, der nur für sie und ihn gemacht war. Sie sprach nicht, aber sie hob immer wieder ihr Gesicht, um ihn zu betrachten. Sie tat das sehr ernst und, wie er später meinte, mit einer gewissen Traurigkeit im Blick. Wenn sie lächelte, legte sie eine Hand in seinen Nacken und massierte leicht seinen Haaransatz. Ohne nachzudenken, küßte er ihre Stirn und sah, wie schön sie war.
 
Sie tanzten lange, vier-, vielleicht fünf Musikstücke. Als sich die letzten Takte vor einer Pause ankündigten, lockerte die Frau die Umarmung, zog mit einer Hand ihre beiden Ohrringe ab und steckte sie H. in die Hemdtasche. Dann ließ sie ihn los und ging direkt auf den Ausgang zu. Noch ehe H. zur Besinnung kam, war sie seinem Blick entschwunden. Er blickte auf seine Gruppe und zur Tür und dann rannte er ihr nach, in seiner Kehle einen hüpfenden Kloß.
 
Sie war weg.
 
Die Ohrringe, schöner Modeschmuck aus Salvador do Bahia, wie man ihm später sagte, bewahrte er zehn Jahre lang an einem geheimen Ort auf. Dann verschenkte er sie in einem sentimentalen Augenblick.


© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern