War es wirklich so?

Ina Mahlstedt - "Rätselhafte Religionen der Vorzeit"

von Friederike Hagemeyer
Die beseelte Welt
archaischer Religionen
 
 
„Weshalb beschäftigen wir uns eigentlich
mit alten Kulturen und ihren  Religionen?“


Mit dieser Frage beginnt die Religionswissenschaftlerin Ina Mahlstedt (http://www.ina-mahlstedt.de/) ihr Buch „Rätselhafte Religionen der Vorzeit“, erschienen 2010 im Konrad-Theiss-Verlag, Stuttgart. – Ja, warum eigentlich?, möchte man wiederholen, was macht für uns die Faszination archaischer Lebensweisen und Weltdeutungen aus? – Die Antwort ist wohl in uns selber zu suchen, denn es geht um die uralte Frage: Wo kommen wir her? Mit ihrer Beantwortung hoffen wir offenbar, ein wenig mehr darüber zu erfahren, wie wir wurden, was wir sind.
 
Methodisches Problem: Mangel an schriftlichen Quellen
 
Die Entwicklung religiöser Vorstellungen gehört zu den frühesten Kulturleistungen der Menschen; doch wann religiöses Gedankengut erstmals nachweisbar ist, darüber streiten sich die Experten. Könnten sich z.B. die Neandertaler bereits mit Fragen der Transzendenz beschäftigt haben? 60.000 Jahre alte Bestattungen in Belgien (Spy) und Frankreich (La Ferrassie, Dept. Dordogne) scheinen dies nahezulegen.
 
An diesem Expertenstreit tritt bereits das Hauptproblem religionswissenschaftlicher Erforschung sehr früher Kulturen deutlich zutage: der Mangel an schriftlichen Zeugnissen. Wie die Archäologie bleibt in diesen Fällen auch die Religionswissenschaft darauf angewiesen, nichtschriftliche Quellen zu deuten: z.B. Reste sakraler Bauten, ausgegrabene Kultplätze, Skulpturen von Tieren und Menschen, bildliche Darstellungen in Höhlen und auf Felswänden, Verzierungen an Steinen und Mauerwerk, an teils erhaltenen Gebrauchs- oder Kultgegenständen und beispielsweise Reste mündlich tradierter Mythen. Trotz höchster methodischer Sorgfalt bleibt dennoch die Grundsatzfrage ungelöst: ist es überhaupt möglich, von materiellen Resten auf Kulte und Rituale zu schließen und von diesen auf eine ausgebaute Mythologie oder gar ein komplexes religiöses System? – Dennoch ist es legitim, sich um ein Verständnis alter schriftloser Kulturen und ihrer - in religiöse Vorstellungen eingebettete - Weltsicht zu bemühen sowie begründete Erklärungsmodelle zu entwickeln.
Ina Mahlstedt hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch Vergleich vier „rätselhafte Religionen der Vorzeit“ zu entschlüsseln. Sie spannt einen weiten Bogen: zeitlich beginnen ihre Untersuchungen ca. 10.000 Jahre v.Chr. - und sie reichen bis in unsere Gegenwart; geographisch erstreckt sich ihr Forschungsgebiet von Anatolien (Göbekli Tepe in der Südosttürkei), über Alt-Ägypten, den europäischen Norden bis is heutige Peru.
Das Anliegen der Verfasserin ist es, ihren Lesern die „Andersartigkeit“ archaischer Religionen verständlich zu machen. Deutlich arbeitet sie deren völlig anderes Verhältnis zur Natur heraus, als wir es kennen, die wir geprägt sind durch die Traditionen der großen monotheistischen Buchreligionen. „Allen diesen Naturreligionen liegt das Bemühen um harmonischen Einklang mit der beseelten und belebten Natur zugrunde.“ (S.8) Die „Weltbilder“ dieser archaischen schriftlosen Religionen „sind an der Ordnung der Natur, an deren ständigem Werden und Vergehen orientiert“ (S.9), eine „zyklische Struktur“ ist ihnen gemeinsam.
 
Religionswissenschaft versus Archäologie
 
Ausdrücklich distanziert sich Mahlstedt von den meist „funktionalen“ Deutungen der Archäologie; am Beispiel kugelförmiger Steine macht sie die Unterschiede klar. Die Archäologen „sprechen von Hammersteinen oder Wurfgeschossen, bei kleineren von Murmeln oder Perlen; sie sehen Spinnwirtel oder Türangelsteine in ihnen, wenn sie durchlocht sind.“ (S. 25) Mahlstedt dagegen interpretiert diese Gegenstände ausschließlich sinnbildlich: „das Runde“ im religiös-symbolischen Zusammenhang steht „für eine Ganzheit, die den zyklischen Wandel in sich schließt.“ (S. 25)
 
Die 10.000 Jahre alte Kultstätte am Göbekli Tepe entstand in der Altsteinzeit, in einer Welt als die Menschen sich noch wandernd von der Wildbeuterei ernährten. Klaus Schmidt, Chefausgräber am Göbekli Tepe, beschreibt die Kultstätte so: Gewaltige Steinkreise (von möglicherweise zwanzig gleichartigen Bauten wurden bisher lediglich vier ausgegraben) aus monolithischen T-förmigen bis zu fünf Meter hohen Pfeilern charakterisieren diesen Ort; Häuser oder sonstige Siedlungsspuren sind (bisher) nicht nachgewiesen. Auf den megalithischen T-Pfeilern sind manchmal im Relief dargestellte stark stilisierte Arme und Hände zu erkennen, so daß sie als menschengestaltige steinerne Wesen gedeutet werden können. Die Pfeilerwesen sind im Kreis um zwei weitere angeordnet, die die anderen jedoch an Höhe weit überragen. Die beiden zentralen Pfeiler stehen frei, die Pfeiler in der Runde sind mit Bruchsteinmauern und innen mit steinernen Bänken untereinander verbunden. Auf den T-Pfeilern sind oft Reliefs von Tieren angebracht; häufig vertreten sind Schlangen, Füchse, Wildschweine und Vögel, vereinzelt kommen auch Auerochsen, Gazellen und Wildesel, Kröten, Spinnen und Skorpione vor. Die Tierdarstellungen zeugen von  höchstem handwerklichem Können, das bisher für diese frühe Zeit einmalig ist. Begeistert schreibt der Archäologe: „Der Göbekli Tepe ... war noch nicht wirklich „neolithisch“, er markiert die fulminante Schlussphase einer jägerischen Kultur, die kurz vor dem entscheidenden Umbruch der Menschheit steht: der Neolithischen Revolution, der Änderung der Nahrungsbeschaffung durch bewusst betriebene Produktion, der Erfindung bäuerlichen Lebens.“ (Schmidt, S. 75) Noch in der Steinzeit wurden die Kreisanlangen sukzessive mit Erde verfüllt, „ja gleichsam begraben ... Die Zufüllung ... gehörte offenbar zum ursprünglichen Plan.“ Nach Schmidt sind die Steinkreise deshalb „weniger als Bauwerke zu verstehen, denn als Einbauten in künstliche Hügel.“ Vorsichtig formulierend versucht Schmidt eine Deutung, wenn er von der „mutmaßlichen Funktion des Göbekli Tepe als Ort eines umfangreichen Totenkultes“ spricht, „eine Annahme, die der Verifizierung in der zukünftigen Forschung bedarf, der jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit zukommt.“ (Schmidt, S. 75)
 
Im September 2007 reist Ina Mahlstedt in den Südosten der Türkei, um zu sehen, weshalb der alte Kultort „für die prähistorischen Jägergesellschaften so interessant war“, und um sich ein Bild von der „landschaftlichen Einbettung“ zu machen. (S. 29) Bei ihren Überlegungen zur Funktion der Kultstätte geht sie - im Gegensatz zu Schmidt - von „zumindest schon teilsesshaften Bauern“ aus, die wohl „ihre ersten kleinen Felder in der fruchtbaren Ebene“ anlegten und nicht auf dem trocknen, kahlen Plateau, auf dem die Kultstätte entstand. Nach Mahlstedt wurde für die frühen „Jäger-Bauern“ durch die „saisonale Fruchtbarkeit der Erde, ihren Vegetationszyklus und die Abhängigkeit vom Wasser eine lebensweltliche Situation geschaffen, die sie religiös an die Erde band, denn diese nährte jetzt die Menschen.“ (S. 33)
 
Die Erde, mit der die Steinkreise sukzessive verfüllt wurden und die allmählich einen Hügel entstehen ließ, enthielt zersplitterte Tierknochen, Pflanzenteile, Bruchstücke von Steinen und menschlichen Gebrauchsgegenständen u.ä. Aus der Tatsache, daß die Erde auf dem Plateau noch heute fruchtbar ist, schließt Mahlstedt, daß diese ursprünglich bewusst aus dem Tal dort hinauf gebracht wurde.
 
Bei ihren Wanderungen auf dem sternförmigen Plateau entdeckt sie vier ausgetrocknete Bachbetten unterhalb der Kultstätte, die in etwa in die vier Himmelsrichtungen weisen. Es ist nicht auszuschließen, daß diese vier Quellen vor 10.000 bis 8.000 Jahren noch permanent Wasser führten.
Zwischen den mit fruchtbarer Erde verfüllten Stelenkreisanlagen und den Quellen sieht Mahlstedt einen engen religiösen Zusammenhang. Sie deutet den sakralen Ort als  „Schöpfungsort“ und erläutert: Der „Umstand, daß die Stelenkreise einen schwangeren Leib der Erde bilden, der mit einem Gemisch aus fruchtbarer Erde, Vegetationsresten und Knochen gefüllt war, verweisen auf religiöse Vorstellungen, die sich auf die Fruchtbarkeit der Erde beziehen.“ Mahlstedts Fazit: „In den zweitausend Jahren seines aktiven Bestehens wurden in Göbekli Tepe keine Gottheiten verehrt, es war im Gegenteil ein Ort, an dem sich auf geheimnisvolle Weise fortwährend Neuschöpfung vollzog - unsichtbare Geistwesen hüteten das Wasser und ließen die Erde fruchtbar sein. Es war ein Ort des Lebensursprungs.“ (S. 29)
 
War es wirklich so?
 
An dieser Stelle erwartet man als Leser den deutlichen Hinweis, daß es sich bei Mahlstedts Schlußfolgerungen um „Annahmen“, um ein mögliches Erklärungsmodell  handelt, man wünscht sich ein „so könnte es gewesen sein“ oder schlicht ein „möglicherweise“, ein „vielleicht“ oder ein „vermutlich“. Der religionswissenschaftliche Ansatz kann ja durchaus zu neuen Erkenntnissen beitragen oder den Blick für neue Sichtweisen öffnen, nur sollten die Interpretationen nicht so apodiktisch vorgetragen werden; das ist dem Leser gegenüber nicht fair - und im besten Fall reizt es ihn zum Widerspruch, im schlimmsten aber zur kompletten Ablehnung der Ergebnisse oder sogar des ganzen Ansatzes.
 
Abgesehen davon hat Ina Mahlstedt ein materialreiches Buch vorgelegt. Ihre Zeichnungen von Landschaften, Felsbildern, Keramiken und Statuen machen die Texte anschaulich, ein umfangreiches Literaturverzeichnis lädt zum Weiterlesen ein. Der Leser erhält Einblick in die völlig andere Herangehensweise der Religionswissenschaft bei der Erforschung schriftloser Kulturen als er sie von der Archäologie her kennt. Aber muss es denn wirklich genauso gewesen sein?
 
Ina Mahlstedt - Rätselhafte Religionen der Vorzeit
© 2010 Konrad Theiss Verlag, 1. Auflage
208 Seiten mit 92 Abbildungen. 17 x 24 cm. Gebunden. ISBN 978-3-8062-2304-0
€ 26,90
Weitere Informationen unter: www.theiss.de
 
Literatur:
Klaus Schmidt: Göbekli Tepe, in: Vor 12.000 Jahren in Anatolien, die ältesten Monumente der Menschheit,. Hrsg. Vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Katalog zur Ausstellung. – Stuttgart: Badisches Landesmuseum, Konrad-Theiss-Verlag 2007, S. 74 – 75.