Donnerstagmorgen

mit Doping-Warnung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Donnerstagmorgen
 
mit Doping-Warnung
 
 
Noch ist die Straße still, an der die Bäckerei liegt. Die schweigsame Frau, die an jedem Morgen hier eine Zeit lang draußen hin und hergeht und drinnen zum Schluß zwei Brötchen kauft, kommt gerade heraus und löst die Hundeleine vom Mauerhaken.
 
Alles kann so bleiben wie es ist, still und sonnig, das ist klar, aber es soll natürlich auch etwas passieren, das ist auch klar. Aber, wie auch immer wir es ansehen, das Ende wird uns nicht gefallen, fällt mir ein – wie immer in solchen Augenblicken. Jetzt gehört der Dreieckstisch, auf dem ich die Zeitung ausbreite, mir noch allein, doch es bleibt nicht lange so.
 
Ich werde hinweggeschwemmt vom Ansturm meiner Kaffee-Gesellen in Blau; Rohrleger, Tapezierer, Dachdecker; Straßenbauer und Gärtner, alle auf einmal. Sie alle drängen sich hier auf vier Quadratmetern Verkaufsraum um unseren Dreieckstisch, stehen vor dem Schaufenster, sitzen in den aufgestellten Aluminiumsesseln auf dem Gehsteig. Ich lasse mich nicht vertreiben, stehe wie schon oft inmitten lauter Muskelmännern, von denen ich die Hälfte schon lange kenne. Auch ihnen bin ich schon länger kein Fremder mehr.
 
Jetzt gehöre ich allerdings nicht mehr mir. Ich werde aufgesogen von Gesprächen, Eindrücken, Empfindungen; ich bin aufgehoben unter Kumpanen und meine doch, an mir gehindert zu werden, an mir, den ich wohl auch nicht finden würde, wenn es plötzlich wieder still würde.
 
Statt dessen bin gefesselt von dem Bericht über einen Bodybuilder (schon wieder einer), der vor Gericht steht, und zwar wegen Drogendelikten. Gleich schreite ich zu seiner Verteidigung, zur Verteidigung eines Schwächeren, wie ich zu fühlen  meine  – wem hat er denn wirklich Leid zugefügt?
Also, das ist doch keine Frage! Rauschgifthandel.
Aha. Dealer. Na dann …
Einer kennt einen, der hat Diabetes von den Anabolika bekommen.
Dann allerdings.
 
„Der Kerl hat bestimmt keine Eier mehr“, sagt einer. Ich horche auf. „Kampfsport? Treten in die Leistengegend?“, will ich wissen.
„Unsinn. Das Zeug macht die Dinger kaputt.“
 
„Dann müssen wir sofort damit aufhören“, sage ich todernst, und alle lachen. Zwei
Lebensjahre will das Gericht ihm wegnehmen, denke ich mitleidig. Wo er doch schon geschädigt ist. Die Leute hier müssen es ja wissen, zumal ein Kampfkunst-Sportler neben mir steht. Aber der blickt heute nur versonnen vor sich hin.
Jetzt sagt er etwas: „Der Mann leitet auch einen Verein.“
 
Jetzt haben wir wieder ein Thema. Die Vereine seien selbst schuld, daß ihnen die Mitglieder davonliefen. Sie hätten keine eigenen Räume, keinen Ort, wo sich die Mitglieder zu Hause fühlten, keine flexiblen Öffnungszeiten.
 
Das stimme zwar, werfe ich ein, aber die Gründe lägen tiefer. Früher seien von den Vereinen geistige Impulse ausgegangen – und ohne die verkäme der Sport zum Jahrmarkt -, sie hätten heute längst nicht mehr das Gefühl, etwas Wichtiges und Gutes zu tun, und dieses Gefühl trüge sie nicht. Die Vereine hätten einmal für Befreiung, Emanzipation und Aufklärung gestanden, für den Patriotismus des Turnvaters Jahn, der allerdings ein Antisemit war, aber immerhin, sie hatten auch mehr getan, als nur die Knochen bewegt.
Achtungsvolles Kopfnicken. Ich muss aufpassen, daß ich nicht zu theoretisieren anfange.
 
Auf jeden Fall hat der Nationalspieler Lahm geheiratet.
„Meinen Segen hat er“, sagt der Kampfkunst-Meister neben mir.
Na? Hat er etwas dagegen?
Überhaupt nicht, behauptet er. Er sei ja verheiratet, lebe aber getrennt. So sei er ziemlich glücklich.
 
„Alles Quatsch“, sagt mein Nebenmann leise zu mir. „Der hat doch immer das Gefühl, auf etwas zu warten.“ Er wischt sorgfältig einige Krümel vom Tisch.
„Gut erzogen“, sage ich.
„Immer schon. Von zu Hause.“
Ich stimme ihm zu.
„Man muss sehen, dass man gut miteinander auskommt und sich auf einander verlassen kann“, fährt er fort.
„Ist das Ihr Ernst?“ frage ich. Echte Männer lästern schließlich lieber, damit rechne ich hier.
Nein, das sei sein Ernst. Prima, sage ich. Ich dächte das auch. Wieder wischt er sorgfältig über die Tischplatte, auf der längst keine Krümel mehr liegen. „Jetzt muß mit dem Wischen Schluß sein“, sage ich. „Es ist alles sauber.“
„Ja, ja“, sagt er. „Schrecklich. Zu Hause mache ich das auch immer.“
 
Ich mache mich auf den Weg in den Wald, der zweihundert Meter weiter beginnt. Noch strotzt er vor grünem Reichtum, das Licht fließt in seine dunklen und dämmernden Ritzen, er wird mir das Gefühl geben, an seinem Reichtum teilzuhaben.
Das Grundproblem ist ein philosophisches oder so: Ob ich, allein jetzt, über mich verfüge. Oder, unangenehmer Gedanke, ohne die anderen nicht denkbar bin.



© Karl-Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker