Von der Magie des Anfangs

Ein Wettbewerb: www.der-schoenste-erste-satz.de - Eine Reflexion

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger

Der Erste Satz

 


Jedem Anfang wohne ein Zauber inne, heißt es. Das gilt für die Liebe und sollte auch für den ersten Satz eines Buchs gelten. Doch die Magie des Anfangs kann schnell verblassen, wenn er nicht hält, was er verspricht. Auch das gilt gleichermaßen für die Liebe und für ein Buch.

Wer nun einen ersten Satz seiner Wahl zum Wettbewerb einsendet, muss  seine Entscheidung auch begründen, Fragen beantworten: „Welche Erwartungen weckt der erste Satz? Welche Stimmung löst er aus?“ Und vor allem: „Hält die Geschichte, was der erste Satz verspricht?“ Ein Trick der Stiftung Lesen, genügt es doch nicht, auf die Jagd nach einem gelungenen ersten Satz zu gehen, sondern man muss das Buch, in dem man ihn gefunden hat, auch lesen.

Eine Jury wird die Einsendungen begutachten, der unter anderem der Kinderbuchautor Paul Maar, Thomas Brussig, der eher Romane für erwachsene Kinder schreibt, angehören, dann die unvermeidbare Elke Heidenreich und Heiner Brand, der Trainer der Handball-Weltmeistermannschaft, über dessen Schnurrbart der erste Satz erst noch zu schreiben wäre.

Brussig gibt in seiner pragmatischen Art gleich an, was ein erster Satz zu sein habe: „Ein Brühwürfel, mit der die ganze folgende Suppe gekocht wird.“ Also gehen wir auf die Suche nach solch einem Brühwürfel, oder anders gesagt nach einem Satz, der sogleich eine ganze Welt eröffnet oder ein Geheimnis in sich birgt, das gelüftet werden will. 

Bei Goethe wird man kaum fündig, vielleicht gerade noch beim Werther: „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ Bei Thomas Mann muss man nicht suchen, dafür sind seine ersten Sätze zumeist viel zu lang, gar langweilig, eher bei seinem Bruder Heinrich, etwa im „Untertan“. „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“. Obwohl Fontane in einem Brief meinte, nach einem gelungenen ersten Satz müsse der Rest mit einer inneren Notwendigkeit gelingen, sucht man in seinen Romanen vergeblich nach einem solchen Satz. Kafka hingegen ist ein sicherer erster Satzgeber, nicht nur in der Erzählung „Die Verwandlung“, wo Gregor Samsa sich nach einer unruhigen Traum-Nacht schon im ersten Satz zu einem Ungeziefer verwandelt findet.

Wie aber wäre es mit dem Satz eines österreichischen Schriftstellers?: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer“ oder: „Ich bin nicht Stiller“, aus dem gleichnamigen Schweizer Roman. „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heilanstalt“ stammt von einem deutschen Nobelpreisträger, wobei der Satz nur durch das Wort „Zugegeben“ etwas Besonderes hat, wie auch der Satz eines anderen Deutschen, der den Nobelpreis ebenso verdient hätte, durch den Zusatz des Wortes „aber“: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ Manche Anfänge klingen zwar gut, wirken aber vor allem spekulativ: „Ich sah in ihrer Hand das Messer nicht“, eines jüngeren Autors. Man kann eine Erzählung oder einen Roman auch mit einem kuriosen Satz beginnen, wie mit: „Als er im Wald verschwand, blieb der Wald unverändert“ oder mit „Einen Taube gurrte, die Antwort unterblieb“. Sogar ganz einfache erste Sätze können den Leser in eine Geschichte hineinlocken und Spannung und Neugier erzeugen. Etwa: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen“ oder: „Nur keine Angst“.                                     

Wir wollen hier nicht zu viele Tipps geben, aber einen Anfangsatz wie: „Eine Blume, die sich erschießt, macht keinen Lärm dabei“ muss man überhaupt erst einmal  finden, auch den berühmten aus einem einst massenhaft gelesenem, aber inzwischen völlig vergessenem Buch: „Ein Gespenst geht um in Europa.“ 

 Was gibt es zu gewinnen in diesem Wettbewerb ? Für Kinder unter anderem einen Sitzsack mit Buchpaket, für Schulklassen einen Workshop mit dem Rap-Poeten Bas Böttcher. Den Großen hingegen winkt eine Reise nach New York, oder eine Leselampe, damit die alten Augen beim Lesen nicht so leiden.

Zwei einfache aber dadurch raffiniert geniale erste Sätze seien noch  verraten. Walter Moers beginnt „Die Stadt der träumenden Bücher“ mit: „Hier fängt die Geschichte an.“

Und Christoph Hein hat für seine Novelle „Drachenblut“ folgenden ersten Satz gefunden: „Am Anfang war die Landschaft.“


Ein Wettbewerb: www.der-schoenste-erste-satz.de


Der schönste erste Satz
(zusammengestellt von Jörg Aufenanger):

 „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer“ aus: „Ein Mord den jeder begeht“ von Heimito von Doderer

„Ich bin nicht Stiller“ aus  „Stiller“ von Max Frisch

„Zugegeben: ich bin Insasse einer Heilanstalt“ aus „Die Blechtrommel“ von Günter Grass

„Aber Jakob ist immer über die Gleise gegangen“ aus „Mutmaßungen über Jacob“ von Uwe Johnson

„Ich sah in ihrer Hand das Messer nicht“  aus „Nox“ von Thomas Hettche

„Als er im Wald verschwand, blieb der Wald unverändert“ aus „Liebeskummer“ von Robert Wolfgang Schnell

„Eine Taube gurrte, die Antwort unterblieb“ aus „Die Brandstifter“ von Peter Faecke

„Meine Mutter fürchtete die Schlangen“ aus „Jugend“ von Wolfgang Koeppen

„Nur keine Angst“ aus „Was bleibt“ von Christa Wolf

„Eine Blume, die sich erschießt, macht keinen Lärm dabei“ aus „Alte Nester“ von Wilhelm Raabe

„Ein Gespenst geht um in Europa“ aus Marx/Engels „Das kommunistische Manifest“



Weitere Informationen über den Wettbewerb unter
: www.der-schoenste-erste-satz.de

© Jörg Aufenanger
Redaktion: Frank Becker