Das Theater ist auf der Straße

..Vostell-Ausstellung im Leverkusener Museum Morsbroich

von Rainer K. Wick

Wolf Vostell, Selbstporträt 1971
Das Theater ist auf der Straße
 
Eine bemerkenswerte Ausstellung in Leverkusen
erinnert an die Happenings von Wolf Vostell 
 

Wer sich derzeit dem Hauptportal von Schloß Morsbroich in Leverkusen nähert, kann leicht über ein rostiges Bahngleis stolpern, auf dem quer zur Fahrtrichtung ein alter, schwarzer, zerbeulter Mercedes 170 aus den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts plaziert wurde. Ein Großfoto im Hintergrund bettet diese Inszenierung in ihren historischen Kontext ein, erinnert es doch an ein spektakuläres Ereignis (engl. happening), das im Jahr 1963 in Wuppertal stattfand. Betritt man dann die aktuelle Sonderausstellung im Museum Morsbroich, sieht man sich mit einem Paradoxon konfrontiert. Denn ausgestellt ist etwas, was sich streng genommen gar nicht ausstellen läßt. Gegenstand der unter dem programmatischen Titel „Das Theater ist auf der Straße“ firmierenden Ausstellung  sind fünfzig Happenings des 1932 in Leverkusen

Mercedes 170, Mus. Morsbroich, Leverkusen 2010 (Foto © Rainer K. Wick)
geborenen und 1998 allzu früh verstorbenen Multimedia- und Fluxuskünstlers Wolf Vostell, oder genauer, was davon übrig geblieben ist: Konzepte, Happening-Partituren und -Notationen, Einladungen und sonstiges dokumentarisches Material, Fotos, Filme und das, was Vostell selbst als Happening-Fallouts bezeichnet hat, also Relikte, die im Rahmen von Aktionen, die zwischen 1958 und 1988 stattgefunden haben, entstanden sind.
 
Happening

Schon vor drei Jahren hatte das Münchner Haus der Kunst den mutigen Versuch gewagt, das Œuvre des „Vaters“ des amerikanischen Happenings, Allan Kaprow, unter dem Titel „Kunst als Leben“ auszustellen, nun setzt das Museum Morsbroich ein weiteres Zeichen, indem es sich nicht nur der musealen Präsentation, sondern auch der wissenschaftlichen Aufarbeitung des seinerzeit mit Kaprow eng befreundeten deutschen Happening-Künstlers Wolf Vostell annimmt. Damit ist ein halbes Jahrhundert nach Kaprows „18 Happenings in 6 Parts“ (1959 in der New Yorker Reuben Gallery) das Happening als spezifische Ausdrucksform der Künstleravantgarde der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts definitiv in der Kunstgeschichte angekommen. Anknüpfend an die Tradition des futuristischen „synthetischen Theaters“, an dadaistische Séancen, an Bühnendarbietungen des Bauhauses, an Inszenierungen der Surrealisten sowie an performative Malpraktiken der fünfziger Jahre (etwa bei Jackson Pollock, George Mathieu und Yves Klein), ging es im Happening um die Expansion der Künste, um die Überwindung der Gattungsgrenzen und besonders darum, die Kunst aus dem Gehäuse des Ausstellungsraumes zu befreien und den Betrachter zum aktiven Teilhaber am künstlerischen Geschehen, zum mitgestaltenden Akteur, werden zu lassen.
 
Umbrüche

Das waren Zielsetzungen, die bald unter dem Stichwort vom „erweiterten Kunstbegriff“ die Runde machten und sehr genau das geistige Klima und die sozial-kulturellen Umbrüche der Zeit (bis hin zur Studentenbewegung Ende der Sechziger Jahre) reflektieren.
Schon während seiner Studienzeit an der Wuppertaler Werkkunstschule – noch unter dem Direktorat

Vostell dé-coll/agiert ein Plakat, Köln 1961 (Foto Katalog)
des legendären Jupp Ernst – konzipierte Vostell 1954 zweiundzwanzigjährig ein – allerdings nur teilweise realisiertes – Proto-Happening mit dem Titel „Skelett“, bei dem „mit x-beliebigen Mitteln … über Nacht spontan oder auch am Tag bewußt eine bekannte Stelle der Stadt (Wuppertal) verändert“ werden sollte. Im selben Jahr gelang es Vostell, das hier ablesbare und für sein gesamtes späteres Œuvre charakteristische Prinzip der Verfremdung zu schärfen, indem er es durch das Konzept der de-coll/age präzisierte. Bei einem Parisaufenthalt entdeckte er in einer Schlagzeile des „Figaro“ das Wort „décollage“, das ihn veranlaßte, seine Gedanken „über Kunst und Leben neu zu formulieren, wenn nicht sogar vollkommen zu ändern“, wie er selbst betont hat. Dort hieß es: „Peu après son décollage … un Super-Constellation tombe et s’engloutit dans la rivière Shannon.“ Décollage meint hier den Start eines Flugzeugs, das kurz danach abstürzt. In einem Langenscheidt Taschenwörterbuch fand Vostell unter der Schreibweise „décoll/age“ folgende Erklärung: „Los-machen, -gehen; Start; Aufsteigen des Flugzeugs vom Boden; décoll/er: Geleimtes losmachen, trennen, weggehen; sterben, abkratzen.“ Fasziniert von der Vieldeutigkeit des Begriffs und von der Tatsache, daß er genau das Gegenteil dessen signalisiert, was die Kubisten mit der Erfindung der Collage für die Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geleistet haben, machte der Künstler die dé-coll/age (wie er die lexikalische Schreibweise modifizierte) zum Leitmotiv seiner künstlerischen Arbeit. Dies bezog sich nicht nur auf zerrissene Plakatwände, denen er in den Straßen auf Schritt und Tritt begegnete und die er als vorgefundene oder nur noch geringfügig zu verändernde tachistische Gemälde (objets trouvés) begriff, sondern auch und vor allem auf inszenierte fragmentarische Ereignisformen, die der kritischen Bewußtmachung von Mißständen und Fehlentwicklungen dienen sollten. So verstand er, der ein sozial engagierter und eminent politischer Künstler war, seine künstlerischen Arbeiten nach eigener Aussage immer als „Störfeuer, Mahnungen, Drohungen, Proteste, Erinnerungen, Fragezeichen.“
Davon zeugen gleichermaßen seine Plakatabrisse, Objektbilder, Druckgrafiken und Happenings, mit denen er in den sechziger Jahren zum bedeutendsten europäischen Vertreter dieser Kunstform wurde. Ein Happening war für Vostell ein „inszenierters oder improvisiertes Geschehnis“, gebildet aus „Phasen aus der Realität … ohne Bindung an feste Räume, sondern an vielen Stellen der Stadt“.


Vostell 9-Nein-dé-coll/agen,  Rangierbahnhof Wuppertal-Vohwinkel 1963  (Foto Katalog)
 
Parnass 1

In diesem Sinne zu den „klassischen“ Happenings des Künstlers gehören die „9 Nein-dé-coll/agen“, die am 14. September 1963 in Wuppertal stattfanden. Wie der Titel andeutet, bestand dieses Happening aus neun Teileinheiten, die unter Publikumsbeteiligung an unterschiedlichen Ereignisorten „aufgeführt“ wurden. Ausgehend von Rolf Jährlings Galerie Parnass in der Moltkestraße wurden die Teilnehmer mit einem Bus durch die Stadt transportiert und erlebten u.a., wie auf dem Rangierbahnhof Vohwinkel eine Dampflok mit ihren Puffern einen PKW der eingangs erwähnten Marke demolierte, wie in Mixern eine Bildzeitung gemahlen, wie in einem nächtlichen Steinbruch ein Fernsehgerät zur Explosion gebracht und wie Plastikspielzeug auf Elektrokochern geschmolzen wurde. In einem Fabrikkeller, der früher als Luftschutzbunker gedient hatte, wurde das Publikum hinter ein Gitter gesperrt, während ein Mann mit einem Polizeihund vor ihnen hin und her lief. Titel dieser Episode: „Is Birmingham in the United States?“ – Anspielung auf die Polizeipraktiken bei den damaligen Rassenunruhen in den Südstaaten. All diese scheinbar destruktiven Aktionen, die sich unter dem Sammelbegriff der „dé-coll/age“ subsumieren ließen, waren nicht das Resultat einer bloßen „Philosophie der Zerstörung“, sondern Kultur-, Medien- und Gesellschaftskritik mit drastischen ästhetischen Mitteln, die dazu eingesetzt wurden, die Menschen aufzurütteln, durch eigenes Erleben ihr kritisches Bewußtsein zu schärfen, ja letztlich ihr Verhalten zu verändern. Hier wie auch in seinen

Vostell - In Ulm.... 1964 (Foto Museum Morsbroich) 
späteren Happenings, die immer ihre Verankerung im Zeitgeschehen suchten  (wie etwa „Miss Vietnam“ 1967 in Köln), erwies sich Vostell damit als der große Moralist in der Kunst der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. 
 
Parnass 2

In ihrer komplexen Struktur stellten die Wuppertaler „9 Nein-dé-coll/agen“, auf die hier nicht ohne Grund etwas ausführlicher eingegangen wurde, den direkten Vorläufer des New Yorker Happenings „You“ und des großen Ulmer Happenings „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum“, beide 1964, und des Happenings „Dogs and Chinese not allowed“, 1966 in New York, dar. Ohne diese und die zahlreichen folgenden Happenings von Wolf Vostell genauer betrachten zu können, sei an dieser Stelle daran erinnert, daß Wuppertal noch einmal, nämlich im Jahr 1965, im Mittelpunkt der damaligen Avantgarde der Aktionskunst stand, nämlich im Rahmen der Veranstaltung „24 Stunden“ in der Galerie Parnass, an der neben Vostell auch Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik und andere als „Performer“ teilnahmen.
 
Dokumentarisch

Dies und vieles mehr breitet die Leverkusener Ausstellung auf zwei Etagen mit Hilfe von umfangreichem dokumentarischen Material, das größtenteils aus dem Happening Archiv Vostell in

Vostell - Ruhender Verkehr, Köln 1969
(
Foto © Rainer K. Wick)
Malpartida de Caceres stammt, vor den Augen der Besucher aus. Zudem macht sie den – allerdings etwas verzweifelt anmutenden – Versuch, im Sinne Vostellscher Happenings den Betrachter aus seiner eher passiven, rezeptiven Haltung zu emanzipieren und ihn zum aktiven Teilhaber und Mitwirkenden werden zu lassen. So haben die Ausstellungsmacher das Setting der Aktion „Umgraben“ (1968/70 und 1974) im Museum nicht nur rekonstruiert,  indem sie ein größeres Geviert mit Erde angefüllt haben, sondern interaktiv inszeniert, haben doch die Ausstellungsbesucher selbst die Möglichkeit, das Erdreich mit Spaten umzugraben, dabei unerwartete Hörerfahrungen zu machen und zugleich auf neue Bewußtseinsebenen zu gelangen.
Der 1919 bis 1923 am Staatlichen Bauhaus in Weimar lehrende Schweizer Künstler Johannes Itten hat den Historiker einmal als den rückwärts gewandten Propheten bezeichnet, der „die Ereignisse eines Vulkanismus als Sedimente auszudeuten“ suche. Diese Einschätzung dürfte in besonderer Weise für die historische Aufarbeitung einer so flüchtigen, ephemeren, sich der Wiederholung und Verdinglichung entziehenden Kunstform wie der des Happenings zutreffen. Daß darin das prinzipielle Problem der Leverkusener Ausstellung liegt, ist unmittelbar evident. Gleichwohl handelt es sich um eine sehenswerte Schau und bemerkenswerte Initiative des Museums Morsbroich, das sich im Sinne der Schärfung seines Profils das Ziel auf die Fahnen geschrieben hat, zukünftig zu einem deutschen Kompetenzzentrum in Sachen Happening und Fluxus zu avancieren.
 
Die Ausstellung wird von einem überaus informativen, reich bebilderten Katalog begleitet, in dem sich neben einem aufschlußreichen Interview mit Mercedes Vostell, der Witwe des Künstlers, Texte des Kurators, Fritz Emslander, und anderer Autoren befinden. Sie ist noch bis zum 15. August zu besichtigen und wird dann von Oktober 2010 bis Februar 2011 im Museo Vostell Malpartida in der Nähe der spanischen Stadt Cáceres in Extremadura gezeigt.
 
 

Wolf Vostell / Rainer K. Wick, Köln 1991 (Foto Horst Hahn)
Das Theater ist auf der Straße. Die Happenings von Wolf Vostell
Museum Morsbroich, Leverkusen (bis 15.08.2010)
 
Katalogbuch im Kerber Verlag, 24 × 30 cm, 344 Seiten, deutsch/spanisch
ISBN 978-3-86678-431-4, in der Ausstellung € 30,-, im Buchhandel € 44,80
Veröffentlichung der Katalog-Abb. mit freundlicher Genehmigung des Verlages
 
Redaktion: Frank Becker