Eine Frage noch, Herr Genazino

von Wolf Christian von Wedel Parlow
Eine Frage noch, Herr Genazino
 
Was liest du da, Genazinos Fleck? amüsierte sich Nora. Der kam doch schon vor zehn Jahren raus. Ist der nicht schon ein bißchen überholt? Laß mal, der ist noch frisch wie am ersten Tag, sagte ich und rutschte noch tiefer unter die Decke. Gestern zum Beispiel fand ich folgende Stelle: Die Deplaziertheit des Künstlers ist in unserer Gesellschaft so weit fortgeschritten, daß seine Anstrengung, wahrgenommen zu werden, als schlechtes Benehmen auf ihn selbst zurückschlägt.
 
Halt, Herr Genazino, Sie meinen also, der Künstler habe noch nie den ihm gebührenden Platz in der Gesellschaft gefunden. Sie verweisen auf Goethe? Stimmt, der fühlte sich so deplaziert in dem Dreiecksverhältnis zwischen Anna Amalia und Charlotte von Stein, daß er schließlich Reißaus nahm nach Italien. Und als er zurückkam, fühlte er sich da besser? Nahm er jetzt endlich den ihm gebührenden Platz ein?
 
Nein? Aha, er mußte also erst noch den Tasso schreiben, um die Erinnerung an die Peinlichkeit jenes Verhältnisses zu tilgen. Und wir müssen die Peinlichkeit dieses Stücks nun alle zehn Jahre über uns ergehen lassen. Sie meinen, ich hätte immer noch nicht begriffen, worum es damals gegangen sei. Goethe habe darunter gelitten, daß man in ihm den Liebhaber sah, wo es ihm doch darum zu tun war, als Dichter anerkannt zu werden. Deswegen die Flucht.
 
Ich nicke beflissen. Gut, soviel zu Goethe, Herr Genazino, aber was geht das uns an, uns Kleinkünstler? Sie fragen mich nach meiner letzten Lesung. Was soll damit gewesen sein, Herr Genazino? Sie meinen, ich habe doch sicher befürchtet, vor leeren Stühlen zu lesen? Ja natürlich, solche Ängste seien doch ganz normal. Was ich getan habe, um gegen diese Ängste anzugehen? Was tut man schon in der Situation? Freunde und Bekannte anrufen und zu der Lesung einladen. Ob mir das nicht peinlich gewesen sei, die Freunde hätten den Abend vielleicht viel lieber vor dem Fernseher verbracht? Ob ich nun endlich einsehe, daß unser Bemühen wahrgenommen zu werden bei unseren Freunden als schlechtes Benehmen ankommt? Ja, so gesehen, muß ich Ihnen Recht geben, Herr Genazino.
 
Nur eine Frage noch …



© Wolf Christian von Wedel-Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010