Zufall ist keine Ausrede

Martin Kloepfer inszeniert in Wuppertal "Die Lotterie von Babylon"

von Martin Hagemeyer

Foto © Frank Becker
Zufall ist keine Ausrede

"Die Lotterie von Babylon"
Ein „Glücksspiel“ nach der Erzählung von Jorge Luis Borges
in einer Inszenierung der Wuppertaler Bühnen
 
Inszenierung: Martin Kloepfer - Bühne/Kostüme: Oliver Kostecka - Fotos: Andreas Fischer 
Besetzung: Hermann Soergel: Lutz Wessel - Ulrika Soergel: Sophie Basse - Marie Soergel: Juliane Pempelfort - Herr Müller: Andreas Möckel - Net: Daniel Breitfelder

Premiere am 22.5.2010

Nicht humorvoll?
 
„Nicht humorvoll“, „eine Handlung gibt es nicht“ – es klang nach anstrengender Kost, was Regisseur Martin Kloepfer vorab über „Die Lotterie in Babylon“ sagte. Doch das bezog sich nur auf den zugrunde liegenden Text des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. Dieser ist nun in diesem, so die Selbstbezeichnung, „Glücksspiel“ mitnichten einfach auf die Bühne überführt worden; vielmehr wurde sehr kreativ aus einem in der Tat spröden Denkmodell ein unterhaltsamer Theaterabend voller Überraschungen geschaffen.
 
Von Schuld und Selbstbetrug
 
Die Erzählung von 1941 referiert eher als daß sie erzählt: von einem Land, dessen Einwohner den

v.l.: Andreas Möckel, Lutz Wessel, Juliane Pempelfort - Foto © A. Fischer
Verlauf ihres gesamten Lebens einer Lotterie verdanken. Lose werden massenhaft gekauft, und ihre Ziehung entscheidet bis hin zu Leben oder Tod. Den Text legt die Inszenierungvon Martin Kloepfer nun dem überschuldeten Familienvater Soergel (rührend im Selbstbetrug: Lutz Wessel) in den Mund; seine jugendliche Tochter (zwischen kindlich und engagiert: Juliane Pempelfort), Gattin Ulrika (naiv: Sophie Basse) und der Schuldnerberater Müller (amüsant überheblich: Andreas Möckel) hören mehr oder weniger verständnislos seinen Ausführungen zu. Soergel präsentiert diese babylonischen Verhältnisse als Rechtfertigung für seine Geldprobleme. Schulden ja, die hat er, aber Schuld? Etwas mißverständlich spricht er von der „Gesellschaft“, an die er glaubt – gemeint ist nicht etwa das Kollektiv eines Gemeinwesens, sondern die Organisation, welche die Lotterie initiiert hat: „company“ statt „society“. Am Ende geht nicht nur Babel unter, wie man es von der biblischen Geschichte kennt; auch das noch kaum fertiggestellte Haus der Soergels verschwindet, genauer: es wird aufwendig im Sturm von der Bühne geweht. Der Versuch, in eine Traumwelt zu fliehen und die Verantwortung auf eine anonyme Übermacht abzuschieben, ist gescheitert.
 
Who´s afraid of the big bad wolf?
 
Mindestens ebensoviel wie zu denken gibt es bei „Die Lotterie in Babylon“ aber zu sehen. Das Ergebnis erarbeitete die Regie im Team mit den Schauspielern - und das kann man sich lebhaft

v.l.: Juliane Pempelfort, Sophie Basse, Lutz Wessel - Foto © A. Fischer
vorstellen, erlebt der Zuschauer doch einen bunten Mix an erstaunlichen Einfällen (Bühne: Oliver Kostecka). Ein großes Gerüst hält eine Leinwand, die im Verlauf des Stücks per Teppichmesser durchgeschnitten und schließlich heruntergerissen wird; auf diese wird zu Beginn als Vorwegnahme der windigen Schlußszene skurrilerweise der böse Wolf in Zeichentrick projiziert, der das Haus der drei kleinen Schweinchen wegbläst. Hinterfragen ist hier fehl am Platze, Genießen ist angesagt. Tochter Marie pinselt eine Landschaft an die Wand und erzählt ein afrikanisches Märchen; es handelt von einem Helden, der eine brenzlige Situation mit Entschlossenheit angeht – anders als ihr Vater. Eine der komischsten Szenen ist es, als Berater Müller und Frau Soergel sich in trauter Zweisamkeit über die ernste Lage unterhalten – um das Baugelände vor dem Haus anzudeuten, stehen Andreas Möckel und Sophie Basse seelenruhig in einem schlammigen Wasserkübel und balancieren Kaffeetassen und Sahnedose. Das sind Momente, in denen mit einem Augenzwinkern Mittel vorgeführt werden, die es so nur im Theater gibt. Und später findet sich die Dame des Hauses in einem jahrmarkttypischen Kasten als „zersägte Jungfrau“ wieder – nur bis zum Hals zu sehen, muß sie sich von Herrn Net (ungreifbar: Daniel Breitfelder) dessen Versuche anhören, ihr angeblich günstige Kredite aufzuschwätzen.
 
Krake Inter-Net
 
Net ist ansonsten eine halb irreale Figur, die Frau Soergel zum Konsum verführt und damit zur weiteren Verschuldung beiträgt. Mit ihm wird ein weiterer inhaltlicher Aspekt eingebracht: Wie einst der Turm zu Babel, so möchte es scheinen, lockt heute das Inter-Net mit Grenzenlosigkeit; beides

v.l.: Sophie Basse, Daniel Breitfelder - Foto © A. Fischer
endet zumindest hier katastrophal. Andere Elemente sind indes schwer aufzulösen: Gegen Ende thront Soergel, inzwischen bärtig, auf einem Hochsitz über Herrn Net, der ihn bittet, eine zerstörte Rose neu zu erschaffen. Ist hier die allmächtige „Gesellschaft“ personifiziert? Auch deren Rolle bleibt im dunkeln: Steht sie für eine Weltverschwörung oder ganz ohne Intentionen für das Walten des Zufalls?
Ein wenig wirkt die Lotterie wie der Prototyp einer kapitalistischen Kampagne: Ein Bedarf wird erzeugt (hier an Losen), das Volk läßt sich begeistern, doch gewonnen werden kann nur, wenn andere verlieren. Anderes aber ist ganz klar geworden, wenn man das Kleine Wuppertaler Schauspielhaus nach 75 Minuten verläßt: Traumwelten entbinden nicht von Eigenverantwortung. Und daneben, was die Bezeichnung des Stücks als „ein Glücksspiel“ betrifft: Manchmal ist es ein Glück, wenn ein schwerfälliger Text auf spielerischen Umgang trifft.
 
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de