Der Traum vom eisfreien Polarmeer

Philipp Felsch - "Wie August Petermann den Nordpol erfand"

von Frank Becker
Der Traum vom eisfreien Polarmeer

Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, daß es vor knapp 150 Jahren nicht nur noch etliche weiße Flecken (terra incognita) auf den vorhandenen Landkarten gegeben hat, sondern daß die Erforschung der Erde von grandiosen Irrtümern und Katastrophen aufgrund von Fehleinschätzungen gezeichnet war. Während heute die Polkappen und Gletschergebiete der Erde in geradezu Angst einflößendem Tempo abschmelzen und völlig neue Aspekte der polaren Seefahrt eröffnen, erfror der Traum vom Nordpol, der im 19. Jahrhundert zunächst überwiegend von der Seemacht England aus, später auch von Österreich, Norwegen und den USA verfolgt wurde, bei zahlreichen wagemutigen wie leichtsinnigen Schiffs-Expeditionen im gnadenlosen Packeis der Arktis.

Der Wissenschaftshistoriker Philippp Felsch hat sich des Themas in einem wie ein Roman zu lesenden unerhört spannenden Sachbuch angenommen, in dessen Mittelpunkt er den deutschen Kartographen August Petermann rückt, dessen Theorien über die Nordwestpassage, die Erreichbarkeit des Nordpols auf dem Seeweg und ein eisfreies Polarmeer über Jahrzehnte Einfluß auf entsprechende Expeditionen hatten. Wer war dieser August Heinrich Petermann (1822-1878), dessen Nachruhm trotz seiner vielfachen Fehleinschätzungen anscheinend ungeschmälert ist? In Bleicherode im Harz geboren, zog es ihn nach seiner Ausbildung als Kartograph 1845 zunächst nach Edinburgh, dann nach London, wo ihm eine glänzende Karriere in der wissenschaftlichen Kartographie offen stand. Hegemoniale Politik, Wirtschaft und als deren Werkzeug die aufstrebende, weltumspannende Seefahrt lechzten nach immer neuen, auf Karten zuverlässig festgehaltenen Erkenntnissen. August Heinrich Petermann war genau der Mann, den man dabei benötigte, denn seine Karten waren präzise und aufschlußreich.

Als John Franklin bei seiner legendären letzten Expedition auf der Suche nach der Nordwestpassage, dem erhofften kürzeren Seeweg von Europa nach Asien mit den Schiffen Erebus und Terror 1848 verschwand und die Öffentlichkeit unter den Augen von Lady Jane Franklin jede Anstrengung unternahm, um die Verschollenen zu finden, hatte Petermann freie Bahn für neue Theorien zur Nordwestpassage und deren Alternativen. Seine international diskutierte Idee von einem durch den Golfstrom begünstigten eisfreien Polarmeer, über das der prestigeträchtige Nordpol zu Schiff würde erreicht werden können, mit der er besonders in Deutschland und Österreich eine gewisse Aufmerksamkeit errang, geriet zu einer Art Besessenheit, mit der er sich jedoch gegen den Widerstand der britischen Konkurrenz innerhalb der Geographic Society nicht durchsetzen konnte.

Warum er schließlich Hals über Kopf London verließ und sich im provinziellen Gotha unter dem Dach des Geographischen Verlages von Justus Perthes niederließ, ist nicht im Detail geklärt. Sicher ist jedoch, daß der fortwährende Spott gegen den „Lehnstuhleroberer“, der nie an einer Expedition teilgenommen hatte, Petermann mürbe gemacht haben muß. Daß er aber von Gotha aus, nicht zuletzt durch seine "Petermanns Geographische Mitteilungen" weiterhin und zunehmend verbittert an der internationalen Diskussion teilnahm, ja sogar zu einem Besuch nach London reiste, jedoch versuchte, das damals noch seefahrende K.u.K. Österreich neben Deutschland für seine Pläne zu begeistern, ist überliefert. Petermanns Ruhm als genialer Kartograph wirkt fort. Am 25. September 1878 schoß er sich eine Kugel durch den Kopf.
Philipp Felsch hat Petermanns Leben und Nachlaß durchforstet - das Ergebnis liegt nun als eine Dokumentation auf dem Tisch, die ebensogut als Lebensroman durchgehen könnte.
Spannende Sachliteratur, selten genug, daher eine Empfehlung wert.  

 
Beispielbild


Philipp Felsch
Wie August Petermann den Nordpol erfand

Originalausgabe

© 2010 Sammlung Luchterhand, Taschenbuch, Klappenbroschur, 272 Seiten, 11,8 x 18,7 cm, 10 farbige Abbildungen, 16 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-630-62178-4
€ 12,00 [D] | € 12,40 [A] | CHF 21,90
 
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