Morgen mit Liebeserlebnis

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
 Morgen mit Liebeserlebnis


Diesen Erlebnisbericht werde ich, wenn ich ihn aufgeschrieben habe, erst längere Zeit ablagern lassen wie Whisky, der alt werden soll. Es geht nämlich um meinen Übermut, und ich habe sehr oft erfahren, wie hart er bestraft wird, wenn man sich ihm überläßt. Kurz darauf steht man erbärmlich und wie nackt da; das Leben hat uns rasch wieder gedemütigt. Das reichte bei mir schon von Blechschäden am Auto bis zu Schlimmerem.
Wie gesagt, ich lasse dies hier liegen, bis sich aller Übermut in diesem Bericht verdichtet hat zu totem Granulat, das am Boden des Whisky-Fasses liegt. Dann erst bin ich vielleicht vor Rache sicher.
 
Ich war heute Schwimmen in einem unserer hübsch renovierten Schwimmbäder. Alles verlief wie schon hundertmal gewohnt, die vielen Verrichtungen, die Routine von Duschen, Schwimmbrille bereitlegen, Utensilienablagerung am Beckenrand, das vorsichtige Hineinstaken ins Becken. Auch die üblichen Maßnahmen für kräftesparende Schwimmtechnik, mentale Disziplin gegen die Langeweile, sie alle wurden ergriffen; die Zeit verstrich ohne Widerstand.
Rechts und links glitten sanft geschwungene Frauenkörper vorbei. Sie mußten sehen, sie sahen, wie sie bewundernde Blicke über und unter Wasser streiften, aber ihre Gesichter blieben unbewegt, konzentriert, die Blicke starr geradeaus gerichtet. Und mehr noch, ich meine, die Mädchen und Frauen bemerkten auch, wer sie ansah. Und dieses Sehen und Gesehen-Werden ergab wahrscheinlich ein Spannungsnetz, das dieses Schwimmbad-Panorama für Viele verdichtete.
 
Wieder angekleidet, verließ ich das Bad dicht hinter einem jungen Mädchen, wobei sich die Ausgangstüren auf Knopfdruck automatisch öffneten. Draußen schaute ich mir die Türen prüfend an. „Hier muß ich es wahrscheinlich auch einen Knopf geben“, sagte ich vor mich hin.
Das Mädchen hatte es gehört. „Wahrscheinlich ist es der hier“ sagte sie. Ja, das mußte er sein. Auf Druck würden sich die Eingangstüren öffnen.
Das Mädchen im Trainingsanzug war schlank, ein helles Gesicht, die Nase edel und schmal. „Sie sind hier bereits eine erfahrene Frau“, sagte ich lobend und doppeldeutig. „Aber gottseidank“, antwortete sie bestätigend und doppeldeutig. Sie sah mich voll an. Ich nickte anerkennend, und dann begaben wir uns auf den Weg zu unseren Autos. Da hörte ich sie rufen: „Sehen Sie sich das an!“
 
Neben ihrem war ein anderes Auto geparkt, aber so dicht, daß sie kaum einsteigen konnte. Wir berieten. Man müsse erwägen sie hineinzuschieben, schlug ich vor. Das sei nicht nötig, sie werde von der anderen Seite hineinkriechen. Innen angekommen, blickte sie mich triumphierend an.
Von diesem Augenblick an begann ich mich zu fragen, warum sie so munter und unbefangen mit mir sprach. Noch lag mir die Erklärung fern, mein ungefährliches Alter könne der Grund sein. Ich sah ihr zu, wie sie aus der Parklücke fuhr, langsam um die Ecke auf die Straße lenkte und – da wandte sie sich noch einmal um und winkte mir zu. Ich winkte zurück.
 
In diesem Augenblick begann ich, mich für unwiderstehlich zu halten.
 
Aber auch der Verdacht auf Übermut und Selbstüberschätzung schwelte in mir. Es spricht für mich, daß ich ihn meiner Frau mitteilte, der ich von dem Vorkommnis berichtete. Schließlich war das Mädchen unwiederbringlich weg, Geheimhaltung war sinnlos.
„Was kann ich gegen Übermut uns Selbstüberschätzung tun?“ fragte ich meine Frau.
Sie überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: „Es gibt nur einen Weg zur Heilung. Du mußt sie treffen. Aber vergiß deine Tabletten nicht.“
 
Wie schon angedeutet, werde ich diese Geschichte längere Zeit für mich behalten. Aber andererseits: Was hat ein alter Mann schon zu verbergen. Irgendwann wird er sich sowieso vertreten lassen müssen.
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010