Unschuld

von Johann Wolfgang von Goethe

Foto © Frank Becker

Unschuld
 
Schönste Tugend einer Seele,
Reinster Quell der Zärtlichkeit!
Mehr als Byron, als Pamele,
Ideal und Seltenheit!
Wenn ein andres Feuer brennet,
Flieht dein zärtlich schwaches Licht.
Dich fühlt nur, wer dich nicht kennet;
Wer dich kennt, der fühlt dich nicht.
 
Göttin, in dem Paradiese
Lebtest du mit uns vereint;
Noch erscheinst du mancher Wiese
Morgens, eh' die Sonne scheint.
Nur der sanfte Dichter siehet
Dich im Nebelkleide zieh'n:
Phöbus kommt, der Nebel fliehet,
Und im Nebel bist du hin.
 
 
Johann Wolfgang von Goethe