Warum Männer geduldig sind und Frauen das taktisch nutzen

TiC-Theater: "Venedig im Schnee" - Eine Komödie von Gilles Dyrek

von Frank Becker
Alles wird gut, Chérie!

"Venedig im Schnee" von Gilles Dyrek
Eine Komödien-Inszenierung á la bonheur


Inszenierung: Raik Knorscheidt - Bühne: Sandra Beckmann - Kostüme: Sabine Päsler - Technik: Waltraut Rettig, Ingrid Sommerfeld
Besetzung: Elisabeth Wahle (Natalie) - Torsten Kress (Jean-Luc) - Sabine Henke (Patricia) - Christof Heußel (Christophe)


Premiere am 26. April 2010

Schreckliche Gutmenschen - peinlich verliebt

Unerhörtes Tempo von der ersten Szene an bestimmt diese Inszenierung der intelligenten Komödie "Venedig im Schnee" des Franzosen Gilles Dyrek, die der Opern-Regisseur Raik Knorscheidt mit seiner gar nicht mehr heimlichen Liebe zum Schauspiel und Boulevard für das Wuppertaler tic theater auf die kleine Bühne (Sandra Beckmann) des Studios gestellt hat. Bespielt wird das ganze Theater inklusive Zuschauerraum und Foyer, das unerhörte Tempo wird bis zur genialen Schlußpointe durchgehalten - soviel schon jetzt.
Jean-Luc (plappernd unterwürfig: Torsten Kress) und Natalie (zuckersüß glänzend: Elisabeth Wahle) haben nach vier Jahren ihrer Beziehung beschlossen, in 14 Tagen zu heiraten, eine Pariser Wohnung im 6. Stock bezogen und turteln, als seien sie erst seit gestern verliebt. Das vermitteln sie einander mit Küßchen und Chou-Chou hier, Chou-Chou da derart penetrant, daß man ahnen möchte: das wird bös enden. Raik Knorscheidt treibt das gekonnt auf die Spitze, läßt Kress und Wahle eine wunderbar schimmernde Seifenblase aufbauen, die mit zunehmender Größe ihre Stabilität verliert. Eben wie im richtigen Leben.

Schuwenisches Dilemma

Jean-Luc hat
Christophe, einen alten Studienfreund (gekonnt reduziert: Christof Heußel) eingeladen,

Versteh´ einer die Männer - v.l.: Wahle, Henke, Heußel - Foto © Martin Mazur
den er kürzlich wiedergetroffen hat. Dessen Beziehung zu Patricia (göttlich: Sabine Henke) kränkelt, er bringt sie dennoch zu der Verabredung mit. Hier nun beginnt das Spiel mit den Ebenen. Wir wissen, daß Patricia schweigt, weil sie mit Christophe schmollt. Das wissen die Turteltauben natürlich nicht und vermuten, sie sei des Französischen nicht mächtig. Da der Irrtum nicht sogleich aufgeklärt wird, manifestiert sich die Situation, zumal zur raschen Erklärung irgendeine nicht überprüfbare Heimat
aus dem Boden gestampft Schuwenien wird, ein kleines Land im ehemaligen Jugoslawien - und Patricia spontan eine nach Balkan klingende Kunstsprache erfindet. Das geht Sabine Henke grandios von der Zunge. Derweil steht weder die Handlung noch das Personal auch nur für einen Moment still. Temporeich und temperamentvoll, äußerst witzig, originell und eloquent knüpft und verwirrt sich ein gordischer Knoten, dessen Entwirrung in immer weitere Ferne rückt.
Knorscheidt hat nach der Vorgabe Dyreks konsequent vier Charaktere gezeichnet, denen von ihren Darstellern höchst lebendig, trotz aller burlesken Verwicklung lebensnah, ebenso konsequent Gestalt verliehen wird. Das bestens besetzte und hoch motivierte Ensemble beherrscht den rasanten, wie ein kompliziertes Uhrwerk ablaufenden vielschichtigen Handlungsstrang auch
mit Elementen des Slapstick in Perfektion. Auch das Spiel mit den Klischees über Männer und Frauen und ihr Verhältnis zueinander gelingt auf den Punkt.

Sitzsack und Kuckucksuhr

Da kämpft Patricia artistisch mit einem Sitzsack, ein jeder im tänzerischen Blindflug mit der zu tief hängenden Deckenlampe, fliegen im Sekundentakt die Türen, werden in atemberaubendem Hin und Her Teller und
Bestecke, Gläser und Wein, Vorspeisen und Gratin herbeigeschafft, denn: zu Tisch, Nathalie hat gekocht. Alles geschieht, dieweil die beiden Chou-Chous ihr Spendenherz entdecken und hergeben, was sie eh nicht mehr haben wollten - "Solidarität mit Schuwenien!" - und sukzessive sich die heile Welt der Täubchen nach ersten kleinen Kratzern als Illusion erweist. Äußerer Anlaß ist, daß Jean Luc in ungebremster Geberlaune auch Nathalies Schneekugel "Venedig" hergibt, ohne sie zu fragen (war die jetzt von Mono-Prix oder Mini-Prix?). Sandra Beckmanns Ausstattung hat von der Decken- bis zur entsetzlichen Stehlampe, vom Sitzsack bis zur Kuckucksuhr maßgeblichen Anteil am Erfolg. Wahle und Kress, Henke und Heußel sorgen zwei Stunden lang Schlag auf Schlag und Pointe

Gib das her! - v.l.: Henke, Heußel, Kress - Foto © Martin Mazur
um Pointe (deutsch von Annette und Paul Bäcker) für lange nachwirkende Erschütterung der Zwerchfelle und Respekt für die perfekte Beherrschung des schwierigen Kapitels "Boulevard".
Zum kuriosen Kabinettstück wird Sabine Henkes schuwenische Nationalhymne zur Melodie von "O Tannenbaum". Chapeau! Das sollte, wer sich zugleich intelligent, federleicht und humorvoll unterhalten möchte nicht versäumen. Ach ja - wird denn schließlich der gordische Knoten gelöst? Und was wird aus den Pärchen? Wissen Sie was: sehen Sie selbst.

"Wir haben kein Recht unser Publikum zu langweilen!", sagt Gilles Dyrek. Dieses Gebot haben Knorscheidt und sein Ensemble sich zu Herzen genommen.

Weitere Informationen unter: www.tic-theater.de