Mein Jahr 1939

Erinnerungen

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Mein Jahr 1939
 
Mein Jahr 1939 hatte den ersten triumphalen Höhepunkt, als ich die Realschule abschloß. Ich hatte auch eine Geschichtsarbeit abgeliefert, eine Abhandlung über Otto I., von der mein Geschichtslehrer beeindruckt war. Zwar hatte ich nichts über Geopolitik geschrieben, die seine Leidenschaft war, und wir glaubten damals alle, wenn auch oberflächlich, daß alles, was in der Weltgeschichte vor sich geht, davon abhängt, ob ein Volk mit diesem Fluß oder jener Grenze leben kann, ob eine Ebene die Feinde anlockt oder nicht, ob hier ein ideales Aufmarschgebiet ist oder dort - obwohl mich diese Theorie  nicht zu einem Aufsatz inspiriert hatte, war er mit meiner Arbeit zufrieden. Die Geopolitik war damals eine Theorie, die wichtig genommen wurde.
 
Zufrieden schien auch das jüdische Ehepaar in der Etage unter uns, die mich bei meinem Heimkommen oft herein riefen, wenn meine Mutter bei ihnen saß und sich mit ihnen unterhielt. Ich begriff nicht, daß Herr Rosenberg nie mehr Arbeit finden würde, wußte nicht, was man ihm in dem halben Jahr angetan hatte, in dem er wegen des Versuchs, die holländische Grenze zu überschreiten, in ein Konzentrationslager eingeliefert worden war. Die Angst hatte seine Lippen versiegelt, und nicht einmal das wußte ich.
 
Die Kessel des Winterhilfswerks - für die Armen organisiert - rauchten.
Flaggen sah ich bei jeder Gelegenheit. Ich fühlte mich so recht als Zivilist, weil sich niemand darum kümmerte, daß ich nicht beim Jungvolk antrat, wo ich seit einem Jahr nicht mehr erschienen war - eine harmlose Geschichte, wegen der ich einfach beleidigt weggeblieben war. Nicht etwa als Widerstandkämpfer, einfach mir zuliebe.
 
Ich fühlte mich sicher. Nichts konnte mir in so einem starken Land passieren, in dem  die Regierung immer recht hatte, immer das Richtige wußte und immer das Richtige tat. Mir begegnete niemand außerhalb unserer Familie, der anderer Meinung war.
 
Ich hatte bei Schulzeitende bereits eine Lehrstelle in einer Industriefirma, einer erfolgreichen Firma, zugesagt bekommen. Ich denke, ich hatte das Gefühl, daß es von nun an ewig aufwärts gehen würde, selbst wenn hier und da versehentlich jemand starb.
 
In der Firma wurde ich mit Vornamen und „Sie“ angeredet, trug einen grauen Kittel bei der Arbeit an einer Kartei. Nach einiger Zeit  durfte ich manchmal kurze Mitteilungen (Es waren fast nur Informationen über Termine. Sie wurden dann im  Schreibsaal von einer der etwa fünfzig Schreiberinnen getippt) auf ein heute unförmig wirkendes Aufnahmegerät  sprechen. Dies geschah in einer sehr engen Diktatkabine, in der in dringenden Fällen, und die gab es oft, eine Schreibdame persönlich erschien, um wegen irgendetwas rückzufragen. Da soll es häufig zu angenehmen, körperlichen Berührungen gekommen sein.
 
Den Nationalsozialismus fand ich beim langsamen Erwachen aus der Kindheit vor wie ein Fisch das Wasser, in dem er schwimmt - Nationalsozialismus war überall, die meisten Leute waren in irgendeiner Organisation, zumindest waren sie  registriert, und alles, alles, die Zeitungen, die Schulen, die Betriebe, sie standen in irgendeiner Beziehung zur Allmacht von Staat und Partei, waren darauf ausgerichtet.
 
Die Macht Hitlers und seiner Partei war in ein Land eingedrungen wie das Blut in die Mikro-Gefäße. Sie war allgegenwärtig. Fast war es für mich, als ob es so immer schon gewesen wäre.
 
Ich und alle anderen, wir hatten glücklich zu sein, denn seit Menschengedenken war die Welt nicht in Ordnung gewesen – ausgenommen bei den alten Germanen mit ihrem Met - und nun war sie in Ordnung, wenigstens in unserem Land.
 
Meine Eltern waren gegen diesen Staat, was mir seltsamerweise nicht auffiel. Vielleicht, weil ich die beiden ja schon ziemlich lange kannte, vielleicht auch, weil sie friedfertige, bescheidene Leute waren, nicht zuletzt deshalb, weil meine Mutter ihr besonderes Problem hatte. Mein Vater war alter Gewerkschaftler und Sozialdemokrat, meine Mutter hatte damals von ihr und Vater geheimgehaltene Gründe, in ihrer Ahnenreihe war jemand mit großer Wahrscheinlichkeit „nichtarisch“ gewesen. Und, wie auch immer, Widerständler sahen anders aus, hatten zumindest mehr Selbstbewußtsein.
 
Von diesen individuellen Problemen einmal abgesehen, denke ich gerade, daß die meisten aus dieser Zeit den allgemeinen Eindruck des Landes schildern würden wie ich. Aber schildern wir damit unsere persönliche Wirklichkeit von damals? Erfüllten uns und mich während des Tages nicht ganz andere Impulse und Gefühle? Wie angesehen war ich, fanden mich andere auch so großartig wie ich mich selbst? Begriffen die Eltern nicht, daß sie sich mir gegenüber völlig falsch verhielten, daß sie rückständig waren? War es denkbar, daß sich Gerda, Waltraut oder Marga von mir einladen ließen? Und so fort. Narzissmus schwellte die Brust.
Freunde waren wichtig, an ihnen erfuhr ich mein eigenes Vorhandensein. Der eine trug verbotene katholische Kirchenblätter aus, der andere, Paul Pörtner, hörte englische Sender und mochte deren Musik, aber keiner vermutete Gefahr dabei, bis ein Jahr später unser Deutschlehrer wegen Kritik am Horst Wessel-Lied verhaftet wurde. Zu dritt schrieben wir einen Brief für ihn an die Polizei oder das Gericht, weiß nicht mehr, wurden gleich darauf von der Gestapo als Verdächtige verhört - aber das war erst ein Jahr später.
 
Und auf einmal war Krieg. Ich, gerade als Lehrling eingestellt, stand mit Hunderten von Betriebsangehörigen auf dem Fabrikhof, und der Firmeninhaber verlas die offizielle Erklärung zum Kriegsbeginn am 1. 9. 1939. Die deutschen Truppen waren in Polen einmarschiert. Mir mißfiel, daß es solche Dinge auf der Welt gab, daran erinnere ich mich, aber ich kam nicht auf den Gedanken, daß dies alles von einer verbrecherischen Regierung unnötig angezettelt worden war. Aus den Radios erklangen Fanfahren und Marschmusik. Mein Abteilungsleiter zeigte mir auf der Landkarte, wo überall es für die unbesiegbaren deutschen Truppen möglicherweise etwas zu erobern gab. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen vor Begeisterung, und ich nickte ergeben.
 
Was heute gerne nicht erwähnt wird: Lust glitzerte überall in den Ritzen dieses Unrechtsstaates: Sie glitzerte bei den Bildern von Kraft-durch-Freude-Reisen nach Norwegen, bei Aufmärschen, Lob, Annerkennung, Auszeichnung; Rückkehr der Jungen mit Tornister von Fahrt, Zeltlager, Jugendherberge, fröhlichen Leuten beim Erbsensuppenessen fürs Winterhilfswerk, keulenschwingenden BDM-Mädchen im Stadion, winkenden Männern mit nacktem Oberkörper beim Autobahnbau, haarknotenbewehrten jungen Frauen bei Glaube-und-Schönheit-Gymnastik, oder beim Nähen und Kochen und Betreuen - alles so dargestellt, als hätten Hitler und seine Leute es erst erfunden.
 
Und wiederum: Was hat der Kleine, der ich war, ganz tief innen empfunden? Wahrscheinlich doch Angst vor den Mächten, denen jeder ausgeliefert war. Eine Ahnung, daß mir mein Leben nicht gehörte, daß ich mir keine Ziele setzen konnte. Bald würde auch ich Soldat sein. Vorstellungen von dem Unerträglichen, das Menschen ab nun einander zufügten, fehlten. Es wurde marschiert und gesiegt.
 
Erst nach Tagen erschienen die ersten Todesanzeigen über Gefallene in den Zeitungen. An Sonntagnachmittagen saßen gleichaltrige Freunde und Freundinnen und ich bei Limonade im Café an der Königstraße, sonntäglich gereinigt und angezogen, und noch immer konnte sich keiner vorstellen, wie es ist, wenn man verwundet, verstümmelt oder geschlagen wird. Und wie sich Todesangst anfühlt. Und wie klein dann fast jeder wird.
 
Genug Verstand und Wissen hatte ich damals nicht. Aber eine Ahnung hatte ich schon, daß man sich mit dieser Welt, so wie sie ist, nicht abfinden kann.
 
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker