Qualen der Adoleszenz

Hervorragende Inszenierung von Wedekinds "Frühlings Erwachen" in Bochum

von Frank Becker
Qualen der Adoleszenz
 
Annette Pullen bringt mit Schauspielschülern
Frank Wedekinds Adoleszenz-Drama
„Frühlings Erwachen“ hinreißend á jour
 

Regie: Annette Pullen – Bühne: Jörg Kiefel – Kostüme: Bettina Schürmann – Licht: Martin Gehrke – Dramaturgie: Christopher Hanf – Fotos: Birgit Hupfeld
Besetzung: Philipp Weigand (Moritz Stiefel) – Mareike Hein (Wendla Bergmann) – Sonja Baum (Frau Bergmann) – Pascal Riedel (Melchior Gabor) – Klaus Lehmann (Herr Gabor) – Rahel Juliane Weiss (Martha Bessel) – Vanessa Mecke (Thea) – Patrick Berg (Ernst Röbel) – Holger Spengler (Hänschen Rilow) – Linda Pöppel (Ilse)
 
 
Tabus und Ängste
 
Eine schwarze Bühne ohne Ausstattung, dafür mit Schaumstoff ausgelegt, auf dem vor allem die adoleszenten Buben sich austoben können, eine Handvoll junger, begabter Schauspieler, Schüler der Folkwang-Schule in Essen und ein annähernd 110 Jahre alter, aber bis auf den Tag aktueller Stoff bilden den fruchtbaren Boden, aus dem Annette Pullen mit Hilfe ihres Dramaturgen Christopher Hanf eine Inszenierung geschaffen hat, die atem- und hilflos macht, tief berührt und den Besucher erschüttert entlässt. Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1891 von der Zensur verboten, 1906 endlich „entschärft“ aufgeführt, dennoch von etlichen zeitgenössischen Schauspielführern ignoriert (L. Melitz, E. Mensch) faßte das Stück damals noch Themen (damals noch Tabu) wie Sexualität, Homoerotik, Onanie, staatliche wie familiäre Autorität, Schwangerschaft, Abtreibung und Suizid auf. Rudolf Krauß schreibt trotz gewissen eingeschränkten Lobes noch 1910 in seinem „Schauspielbuch“: „...Die Dichtung hätte trotzdem nimmermehr auf die Bretter geschleppt werden dürfen. (...) ...Darum greift uns diese Kindertragödie stellenweise ans Herz, wie sehr sich unser Anstandsgefühl dagegen sträuben mag, solche Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen“.


v.l.: Rahel Juliane Weiss, Mareike Hein, Pascal Riedel, Vanessa Mecke, Patrick Berg - Foto © Birgit Hupfeld
 
Alles anders heute?
 
Heute ist das alles anders, liberaler und offener, denken Sie? Schauen Sie sich unbedingt die

Mareike Hein - Foto © Birgit Hupfeld
Bochumer Aufführung an (am besten in einer Vorstellung mit vermeintlich aufgeklärten jugendlichen Besuchern) und lassen sich eines Besseren belehren. In Personal und Handlung drastisch, doch nicht entstellend gekürzt, führt uns das von Annette Pullen und Christopher Hanf á jour gebrachte Drama, dem Wedekind noch die Bezeichnung „Eine Kindertragödie“ gegeben hat, die durchaus gültig gebliebenen Probleme junger Menschen auf der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, Ahnen und Wissen, Söckchen und Seidenstrümpfen vor Augen. Alles ist, wie es war: wo die Heranwachsenden der Hilfe und sanften Führung bedürfen, werden sie meist allein gelassen, ihre Gedanken und Gefühle gehen weit über das hinaus, was die empfindsamen Seelen zu verarbeiten im Stande sind, Zweifel werden zu Ängsten, Ängste führen zu Kurzschlußhandlungen. Versuchen, sich zu finden steht der Mangel an Erfahrung entgegen. Erste zarte Annäherungen ans andere Geschlecht geraten zum Fiasko, werden zu persönlichen Katastrophen. Hilfesuchend ausgestreckte Hände werden nicht gesehen. Pullen (*1974) zeichnet gute Typen, hat genau hingeschaut und hält dem zutiefst verunsicherten jugendlichen Publikum einen Spiegel vor.
 
Annette Pullen trifft ins Mark
 
Das wird nach anfänglichem Gejohle, muskelspielendem Männlichkeits-Gehabe der Knaben und

Berg, Weiss, Weigand - Foto © Hupfeld
kichernder Alberei der Mädel still und stiller, zeigt Betroffenheit, reagiert wie von der Regie kalkuliert mit verunsichertem Gelächter hie und ängstlichem wenn auch lautem Protest da – aber auch mit unverhohlener Anerkennung einzelner und kollektiver Leistung. Wendla Bergmann (Mareike Hein) verlangt von ihrer Mutter ohne Erfolg Aufklärung. Die bekommt sie durch ein Liebesabenteuer mit Melchior Pascal Riedel), dessen sich anbiedernder Vater (im Original ist es übrigens die liberale Mutter, während der Vater das verknöchert Bürgerliche verkörpert) ihm alle Möglichkeiten läßt, auch die Lektüre von de Sade und über Selbstmord. Solche Väter kennen die jungen Leute offenbar, denn der Szenenapplaus für Klaus Lehmann ist groß. Hänschen Rilow (Holger Spengler) und Ernst Röbel (Patrick Berg) haben eine zarte homosexuelle Begegnung miteinander. Dieser kurze, intensive Kuß und eine Szene, die Hänschen bei hektisch verlangender Onanie zeigt, sorgen für Unruhe, ja Unmut beim männlichen Teil des jungen Publikums. Hier hat Annette Pullen die eben doch noch nicht erwachsenen und mit ähnlichen Problemen hadernden Jung-Männer bis ins Innerste getroffen. Chapeau!
 
Hilflose Gewalt gegen sich selbst
 
Melchiors Freund Moritz (Philipp Weigand) hadert mit sich und der Welt. Er wird Versagens-Ängste, sexuelle Wünsche, Gewaltphantasien („Ich habe Gott gesehen!“) und Widersprüche nicht bewältigen und sich erschießen, weil er die Schule nicht schafft. Weigands Darstellung hinterlässt tiefen Eindruck. Emil Strauß hat 1900 in seinem Roman „Freund Hein“ das Thema aufgenommen. Wendla ist von der kurzen Begegnung mit Melchior schwanger und kann nicht begreifen, daß sie das Kind

Weigand, Pöppel - Foto © Birgit Hupfeld
nicht behalten soll. Anders als im Original stirbt sie nicht durch die Hand einer Engelmacherin, sondern am Versuch der Abtreibung durch Gewalt gegen den eigenen Körper. Mareike Hein berührt mit ihrer Darstellung der verzweifelten  Hilflosigkeit des Mädchens, das noch nicht weiß, wie das Leben funktioniert. Melchior verliert den besten Freund und die erste Freundin. Er wird überleben, aber nie vergessen. Pascal Riedel ist Sympathieträger in dieser Rolle. Eine besondere Rolle kommt einer besonderen Darstellerin zu: die der leichtfertigen Ilse (Linda Pöppel), die mit ihrer scheinbar von den Zwängen der Gesellschaft gelösten Lebensauffassung, besonders hinsichtlich der Sexualität, außerhalb der Gruppe steht. Ihre dennoch durchschimmernde Sehnsucht nach Gemeinschaft und sozialer Einbindung kann Linda Pöppel monologisch und im Zusammenspiel packend vermitteln. 
 
Dafür den Musenkuß!
 
Es gibt jedoch auf dem weichen Boden der im Gegensatz zur harten Wirklichkeit alle Stürze auffangenden Bühne keine marginalen Figuren. Dafür sorgen in dieser Aufführung, die vorbehaltlos empfohlen werden kann, alle mit enormer Spielfreude. Unbedingt ansehen!
Die Musenblätter geben dieser besonderen Inszenierung denn auch ihre besondere Auszeichnung, den Musenkuß.
 
Nächste Termine: 4., 6. und 15. März
Weitere Informationen unter: www.schauspielhausbochum.de